Ein Jahr nach der Hochwasser-Katastrophe: Noch immer Trauer, doch mit Hoffnung im Herz

Mehr als 180 Tote, tausende zerstörte Häuser und jede Menge Leid. Vor einem Jahr wütete die Hochwasser-Katastrophe im Westen Deutschlands. Ein Gedenkgottesdienst mit Bundespräsident Steinmeier wollte Trost spenden und Hoffnung geben. Ob es gelang?
Von Johannes Schwarz
Bundespräsident Steinmeier bei dem Gedenkgottesdienst zur Hochwasser-Katastrophe in Euskirchen

Die Straßen sind gut gefüllt. In der Euskirchener Innenstadt gehen die Menschen an diesem Donnerstag ihren Geschäften nach. Vor der Herz-Jesu-Kirche jedoch kommen einige ins Stocken. Sie blicken auf den Platz vor dem Kirchgebäude: Überall Polizei und Männer in Anzügen. „Stimmt, heute kommt ja der Häuptling von Deutschland zu uns“, sagt ein älterer Herr in die Runde. Die Sonne scheint und es ist warm. Doch vor genau einem Jahr war das ganz anders: Die Menschen in der Region erlebten eine eigene Sintflut. „Sind Sie eingeladen zum Gedenkgottesdienst mit dem Bundespräsidenten?“, fragt eine Polizistin eine Frau ein Stück weiter. „Nein“, sagt sie. Sie wolle nur mal sehen, was hier passiert. Vor Steinmeier liegt kein leichter Termin, schließlich muss er den Menschen Trost spenden, die alles verloren haben.

Eine Stunde später spricht Bundespräsident Steinmeier in der großen Kirche. Seine Worte hallen trotz der hochwertigen Technik an der gewölbten Kirchendecke. „Ich versichere Ihnen, Sie sind nicht alleine“, bekommen die 500 Anwesenden zu hören. Dieses Mantra wiederholt er stets bei seinen Besuchen im Katastrophengebiet – auch heute, doch es wirkt an diesem Jahrestag kräftiger als sonst. Er verbindet Schmerz und Trauer mit Hoffnung und Trost. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident, Hendrik Wüst (CDU), bedankt sich bei den Helfern und macht den Trauernden Mut. Ein Jahr nach der Katastrophe wolle das Land nun einen Gedenkort mit 49 Bäumen für die Toten in Nordrhein-Westfalen einrichten.

Betroffener: „Werde es nie vergessen“

Zahlreiche Betroffene des Hochwassers nehmen die Einladung an und kommen zum Gedenkgottesdienst. Einigen von ihnen ist es ein inniges Verlangen, dabei zu sein. „Dieser Tag war ein Einschnitt“, erklärt ein Betroffener vor der Kirche. Drei Viertel seiner Einrichtung habe er wegschmeißen müssen. Die Tage nach den Wassermassen seien die „schlimmsten seines Lebens“ gewesen. Zwar habe er viel Hilfe erfahren, auch von Fremden, doch die Traurigkeit über den Verlust blieb lange. Mit der Zeit habe er umgedacht und wurde dankbarer. Schließlich habe er noch seine Familie und sein Leben. „Das ist das wertvollste“, erklärt der Mann, der mittlerweile wieder herzlichen lachen kann.

Auch im Gottesdienst kommen Betroffene zu Wort. Das Augenmerk bei ihren kurzweiligen Ansprachen liegt bei der Verarbeitung der Katastrophe. Im Angesicht der Zerstörung und der vielen Toten tat es gut, zusammen zu weinen, sagt eine Vikarin einer Kirche im Katastrophengebiet. Miteinander im Gespräch zu bleiben, bleibt für sie auch nach wie vor wichtig. Die Angst löst sich und die Hoffnung komme allmählich zurück, sagt sie.

Ein Vorsitzender einer Pflegeeinrichtung aus Kall berichtet von den dramatischen Ereignissen: Schlafende Bewohner der Einrichtung schwammen mit den Betten im Zimmer herum. Die „unbezahlbaren Helfer“ verhinderten das Schlimmste. Alle konnten gerettet werde. Er „werde es nie vergessen“ und dennoch ist er heute dankbar, für das, was durch Zusammenarbeit gelang, sagt er mit klarer und dennoch zittriger Stimme.

In der gefüllten Kirche sind viele Personen mit Uniform zu sehen: Bundeswehr, Deutsches Rotes Kreuz, Malteser, Deutsche Lebensrettungsgesellschaft, Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk, Flutseelsorger und weitere. Die Helfer und die Betroffenen haben nach all den Monaten nochmals die Gelegenheit zusammenzukommen. Immer wieder bekommt man am Rande des Gedenkens mit, wie sich Not und Hilfe verbinden. Eine Mutter und ihre Tochter, die ihr Zuhause in den Julitagen 2021 verloren, treffen zufällig die Feuerwehrtruppe wieder, die ihnen damals half. Die Dankbarkeit der Beiden drückt sich durch herzliche Umarmungen aus.

Zwei junge Frauen von einer Rettungsorganisation machen kurz vor der Gedenkveranstaltung noch schnell ein Bild mit ihrer Uniform vor dem Rednerpult und dem Altar. Aus der Ferne hört man, wie die eine zur anderen sagt, sie hätte vor einem Jahr nicht gedacht, dass sie jetzt hier stehen würde und gleich den Bundespräsidenten sehen könne.

Theologe Latzel erinnert an Gottes zweiten Bund

Die Frage nach dem Warum stellen sich viele, nicht erst jetzt. Auch wenn die Menschen hier in der Kirche keine Antwort finden, können sie lernen, mit der schweren Frage umzugehen. Einige der Anwesenden merken in den vollen Kirchenreihen, wie wertvoll das Miteinander ist. Flutseelsorger blicken während des Gedenkens umher, um zu sehen, wenn Menschen Hilfe brauchen. Einige nehmen das Angebot an und lassen sich trösten. Auch manche Tränen fließen. Die Seelsorger sind bestens präpariert und können Taschentücher und eine Umarmung anbieten. „Zusammen ist man weniger alleine“, flüstert eine Seelsorgerin einer älteren Dame zu.

Der Präses der rheinischen Kirche, Thorsten Latzel, vergleicht die Hochwasser-Katastrophe mit der Sintflut und der biblischen Geschichte der Arche Noah. Die Menschen aus den betroffenen Gebieten fühlten sich angesprochen, schließlich hatten sie ihre eigene kleine Sintflut erlebt. In der bewegenden Predigt machte Latzel deutlich, dass sich die Betroffenen immer wieder an Gott wenden dürfen. Gleichzeitig dürfen sie wissen, dass Gott durch das Zeichen des Regenbogens einen neuen Bund mit den Menschen versprochen habe. Auch wenn viele Fragen blieben, könne man im Wort Gottes Ruhe finden.

Im Glockenschlag vereint

Nun sollen Glocken erklingen. Es sind Trauertöne. Jeder Schlag steht für einen Menschen, der im Hochwasser sein Leben verloren hat. Ein Schlag, ein Toter. Wenige Sekunden vergehen, bis der Klöppel erneut an die Glocke schlägt. Noch ein Toter. Es dauert quälend lange. Am Ende sind es 54 Glockenschläge. 54, eine Zahl, die in den Medien leicht gelesen ist. Doch hier in Euskirchen wissen die Trauernden, um wen es geht. Alle kennen jemanden, und sei es nur über ein paar Ecken, der in den Fluten gestorben ist.

Das Läuten ist in der hohen Kirche in jeder Ecke zu hören. Der helle und nachhaltige Klang prägt sich ein. Jeder in der Kirche wird sich über das Ausmaß des Hochwassers nochmals bewusst. Einige schließen ihre Augen und gehen jene Stunden des Todes und der Zerstörung nach. Als sie die Augen öffnen, sprechen Betroffene Gebete. Die Gedenkgemeinde singt nach jedem Gebet: „Herr, erbarme dich, erbarme dich.“ Dem Bundespräsidenten sieht man an, dass er selbst voller Gedanken ist und hoffend nach oben blickt. Von Helfern, über Politikern hin zu Betroffenen, hier in der Kirche findet jeder Trost. Nicht erst seit der Hochwasser-Katastrophe. Kriege, Not und Kummer brachten Menschen aller Generationen hier her. Heute im Zeichen des Hochwassers.

Als schließlich Steinmeier, Wüst und die mehreren hundert Besucher aus der Kirche ausziehen, werden sie schon von vielen Schaulustigen auf der Straße vor der Kirche empfangen. Der knapp bemessene Terminkalender des Bundespräsidenten lässt keine zufälligen Begegnungen zu. Während ausgewählte Betroffene noch mit Steinmeier in ein Nebengebäude gehen, um dort über die Katastrophe zu reden, kommen die anderen vor der Kirche zusammen. Feuerwehren aus verschiedenen Ortschaften tauschen sich aus, wie viele Sandsäcke sie an einem Tag aufgereiht haben. Die beiden jungen Frauen der Rettungsorganisation machen fröhliche Bilder mit Ministern der Landesregierung und wieder andere gehen nachhause – im Eindruck der Worte, Klänge und Begegnungen in der Kirche.

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3 Antworten

  1. Warum haben die meisten der Opfer, was ihre Häuser betrifft, noch kein Geld erhalten? Unbürokratisch und schnell sollte geholfen werden, das versprachen seinerzeit die Polit-Oberen. Die Tatsachen sehen anders aus: Äußerst komplizierte Antragsverfahren, viele Rückfragen etc. Ich kann dieses dumme (oder verdummende) Politikergeschwätz nicht mehr ertragen.. Nach dem Motto: „Haltet still, haltet aus, irgendwann wird Euch geholfen. Irgendwann.“ Oder gar nicht. Zusatzfrage: Wo sind die vielen hundert Millionen Euro an Spenden geblieben, die über die Fernsehkanäle erbeten wurden und auch von den Bundesbürgern geleistet wurden? Warum ist das Geld nicht an die Opfer ausbezahlt worden? Warum haben sich die Hilfsorganisationen ihre Taschen damit vollgemacht für andere Zwecke aber nicht zweckgebunden für die Flutopfer der Ahr? Warum kommt dort das Geld nicht an?

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  2. „Ich versichere Ihnen, Sie sind nicht alleine“

    Das muß wie Hohn für die Anwesenden klingen, die seit einem Jahr von der Politik alleine gelassen wurden. Für alle Welt ist anscheinend genug Geld vorhanden, nur nicht für das eigene Land.

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  3. Kein Wort, dass sich die Mehrzahl der Flutopfer allein gelassen fühlt. Die Spendengelder zum großen Teil nicht angekommen sind. Der Staat total versagt hat… Dass sich dieser Mann überhaupt noch in die Region traut. Nichts als leere Phrasen. Es reicht so langsam, immer mehr haben die Nase gestrichen voll vom besten Deutschland dass es je gab bzw. vielmehr von seinen Regierenden und Repräsentanten.

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