Missbrauchsgutachten belastet Ex-Papst Benedikt in vier Fällen

Ein am Donnerstag in München vorgestelltes unabhängiges Gutachten zu Fällen sexualisierter Gewalt im Erzbistum München und Freising belastet unter anderem den emeritierten Papst Benedikt XVI. Ein Gutachter spricht von einem „generellen Geheimhaltungsinteresse“.
Von Johannes Blöcher-Weil
Papst Benedikt XVI.

1.600 Seiten umfasst das Gutachten, das die Münchener Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising am Donnerstag vorgelegt hat. Bei der Vorstellung verdeutlichten die Juristen, dass die Missbrauchsfälle ein Phänomen der Vergangenheit sind. Belastet wird der ehemalige Erzbischof Joseph Ratzinger und seine Nachfolger, Reinhard Kardinal Marx und Friedrich Kardinal Wetter.

Das Gutachten lastet Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., in vier Fällen Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch an. In allen Fällen habe Ratzinger ein Fehlverhalten bis zuletzt strikt zurückgewiesen. Friedrich Kardinal Wetter wird ein Fehlverhalten in 21 Fällen im Umgang mit sexuellem Missbrauch vorgeworfen, Reinhard Kardinal Marx in zwei Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch. Es gehe dabei um Meldungen an die Glaubenskongregation in Rom.

Marx hatte im Mai 2021 Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten, um eine Mitverantwortung für den sexuellen Missbrauch durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten zu tragen. Franziskus hatte das Rücktrittsgesuch abgelehnt. Doch Marx sagte damals, dass er ein erneutes Rücktrittsgesuch nicht ausschließen wolle.

Kein aktives Zugehen auf die Opfer

Das Gutachten zeigt, dass es Hinweise auf mindestens 497 Betroffene sexualisierter Gewalt gab. Nach Angaben der Gutachter waren 247 Opfer männlich, 182 Opfer weiblich. In 68 Fällen sei eine Zuordnung nicht möglich gewesen, sagte Rechtsanwalt Martin Pusch, einer der Autoren des Gutachtens. Er betonte, dass man von einem weitaus größeren Dunkelfeld ausgehe.

Die Gutachter haben eigenen Angaben zufolge unter anderem geprüft, inwieweit „systemische Defizite“ sexuellen Missbrauch durch Kleriker begünstigt haben könnten. Das Gutachten stellt der katholischen Diözese ein schlechtes Zeugnis aus. Es habe keinen „Paradigmenwechsel“ mit dem Fokus auf die Betroffenen stattgefunden. Es gebe kein aktives Zugehen auf die Opfer. Pusch sieht darin ein „generelles Geheimhaltungsinteresse“ und den „Wunsch, die Institution Kirche zu schützen“.

Aus dem Gutachten geht auch hervor, dass viele Priester und Diakone auch nach Bekanntwerden entsprechender Vorwürfe weiter eingesetzt worden seien. 40 Kleriker davon seien wieder in der Seelsorge tätig gewesen. Bei 18 davon erfolgte dies sogar nach „einschlägiger Verurteilung“, wie Pusch betonte. Insgesamt seien bei 43 Klerikern „gebotene Maßnahmen mit Sanktionscharakter“ unterblieben.

Bis 2010 wurde auf Opfer keine Rücksicht genommen

Pusch plädierte für die Einrichtung einer Ombudsstelle für Geschädigte. Diese sei unbedingt notwendig und unverzichtbar. Außerdem müsse man die Situation der betroffenen Pfarreien stärker als bisher in den Blick nehmen.

Ulrich Wastl sprach sich dafür, dass in Zukunft die Weiterverwendung eines Pfarrers durch ein „gänzlich unabhängiges Gremium maßgeblich begleitet werden“ und „vielleicht sogar entschieden werden soll“. Die Akten könnten nur zu einer unvollständigen Aufarbeitung beitragen. Deswegen brauche es einen „geschützten Raum für die Betroffenen“, in dem niemand gegenüber sitze, „der einen weißen Kragen zum schwarzen Hemd trägt“.

Wastl machte in seiner Analyse deutlich, dass bis zum Jahr 2010 auf die Opfer keine Rücksicht genommen wurde: „Wie viele Gutachten braucht dieses Land noch, um darauf aufmerksam zu werden?“ Die Zahl der Betroffenen, die noch zur Aufklärung beitragen können, werde immer weniger. Die Kleriker fragte er kritisch, ob sie sich nicht gegen das System hätten stellen können, das zum Totalversagen geführt hat. Von ihnen forderte ein gehöriges Maß an Selbstreflexion.

Kardinal Reinhard Marx nicht anwesend

Eigentlich sollte das Gutachten bereits im vergangenen Jahr erscheinen. Die Vorstellung wurde wegen neuerer Erkenntnisse um mehrere Monate verschoben. Die Anwaltskanzlei hat bereits Missbrauchsfälle im Bistum Aachen untersucht. Im Erzbistum Köln wurde die Zusammenarbeit zwischen Kanzlei und Kirche wegen „äußerungsrechtlicher Bedenken“ vom Bistum beendet. Dies beauftragte ein zweites Gutachten bei einem Kölner Anwalt, das im vergangenen März erschien.

Kardinal Reinhard Marx war am Donnerstag nicht bei der Vorstellung anwesend. Der Theologe will am Nachmittag Stellung zu dem Gutachten beziehen. Das Erzbistum will sich in einer Woche zu den Vorwürfen äußern.

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10 Antworten

  1. Eine klare Aussage der Bibel:
    Voraussetzungen für das Leitungsamt der Gemeinde
    1 Es heißt – und das ist ein wahres Wort –: »Wenn sich jemand um ein leitendes Amt in der Gemeinde bemüht, strebt er nach einer großen und ehrenvollen Aufgabe.« 2 Darum kommt als Gemeindeleiter nur jemand in Frage, der ein untadeliges Leben führt. Er muss seiner Frau treu sein und sich durch Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein auszeichnen. Sein Verhalten darf keinen Anstoß erregen, er muss gastfreundlich sein, und er muss fähig sein zu lehren. 3 Er darf weder alkoholsüchtig sein noch zur Gewalttätigkeit neigen, muss freundlich sein, darf keinen Streit suchen und darf nicht am Geld hängen. 4 Er muss sich in vorbildlicher Weise um seine Familie kümmern und seine Kinder zum Gehorsam erziehen und dazu anhalten, ein glaubwürdiges Leben zu führen. 5 Oder kann jemand für die Gemeinde Gottes sorgen, wenn er nicht einmal imstande ist, sich um die eigene Familie zu kümmern?
    1.Timotheus 3,1-5 (neue Genfer Übersetzung

    Da können auch die teuren Talare der Amtsträger nicht helfen, wenn der Charakter fehlt!!!

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    1. In der Tat, unter Christen gelten die allerhöchsten Ansprüche an Integrität.
      Deshalb sollte man immer wieder würdigen, wie konsequent die Kirche bereit ist, sich diesen Verfehlungen zu stellen. Selbst wenn damit immer wieder neue schmerzvolle Erkenntnisse verbunden sind.

      Auch andere haben Schuld auf sich geladen, da ist der Wille zu Aufklärung, Transparenz und Wiedergutmachung gelegentlich zweifelhaft:
      „Im November vergangenen Jahres unterzeichnete, wie der Deutschlandfunk in dieser Woche berichtete, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) endlich einen Vertrag, der ihn zur Zahlung von 300.000 Euro in das Ergänzende Hilfesystem (EHS) mit dem Fonds Sexueller Missbrauch verpflichtet – still und heimlich, ohne die Öffentlichkeit zu unterrichten. 2016 hatte der Dachverband seine Zahlungen eingestellt und stets argumentiert, dass er aus steuerlichen Gründen nicht zahlen dürfe.“
      https://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/missbrauch-von-kindern-und-jugendlichen-im-sport-200-000-faelle-17744919.html

      Endgültig unmenschlich werden aber diejenigen, die Missbrauch an Kindern gar nicht mehr als Unrecht erkennen können:
      – das Kentler-Experiment des Berliner Jugendamtes,
      – die Initiative der „Grünen“, bei sexuelle Beziehungen zu Kindern die Strafbarkeit aufzuheben.

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  2. Vielleicht bricht das der Kirche nicht das Genick, aber die Schmerzen werden heftig werden.
    Was macht das mit den Gläubigen ?
    Maßlose Enttäuschung bei den Schäfchen, Vertrauensverlust des Klerus, Kirchenaustritte.
    Viele werden dem Glauben vollends abschwören, aber sicher gibt es auch Menschen die nach Alternativen suchen. Die Freikirchen sollten ohne Scheu sich als solche anbieten. Konfessionsgrenzen sind überwindbar und authentisches Glaubensleben kann man vielerorts antreffen.
    Die Leute haben ein Recht auf Gemeinschaft und Versorgung mit dem Wort Gottes, so wird die Krise der Kirchen zur Chance !

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  3. Wie konnte Gott nur zulassen, das ausgerechnet sein unfehlbarer Stellvertreter auf Erden sich so versündigt? Das kann doch nur bedeuten, dass es keinen Gott gibt, oder das ihm völlig egal ist, was auf Erden passiert.

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    1. Hallo Maik … und was, wenn Gott den Papst gar nicht als seinen unfehlbaren Stellvertreter sieht?

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  4. Wer sagt, dass die Freikirchen von diesem Verhalten frei sind? (Antwort zu 1.)

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    1. die Frage ist natürlich berechtigt, wo fehlerhafte Menschen sich sammeln muss es auch zu Fehlverhalten kommen. Aber das Konstrukt Katholische Kirche, Männer unter sich, Zölibat, Überhöhung des Priesteramts und ein undurchsichtiger Apparat an Bürokratie und Vetternwirtschaft begünstigt das Unfassbare !
      Ein Blick in das Neue Testament genügt um die Kluft zwischen biblischem Modell und menschengemachter Organisation zu begreifen. Viele Freikirchen orientieren sich aber am biblischen Modell und das spricht für sie !

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      1. Sie werden mit den Ohren schlacken, wie viel Missbrauch in Freikirchen betrieben wird. Geistlich, seelisch, körperlich und sexuell.
        Vor allem in solchen Gemeinden, die sich selbst als besonders biblisch und unhierarchisch bezeichnen, mit ihren unanfechtbaren Hierarchien und machtgierigen männlichen Ältesten.
        Und niemand darf das kritisieren. Denn es ist ja so biblisch. Und Kritik daran ist Auflehnung gegen die gottgewollte Leitung. Oder gegen den heiligen Geist.

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  5. Ich verstehe nicht, wieso Sie meinen gestrigen Kommentar nicht veröffentlichen,
    passt er nicht in Ihre Sicht der Dinge …
    oder ist Ihr Verhalten genau das Beispiel des nicht Wahrhabenwollens.

    Für eine Antwort wäre ich sehr dankbar

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  6. … sinngemäß lautete mein nicht veröffentlicher „Kommentar“: daß auch manche Gemeinde-Mitglieder, sozusagen fromme naive Kirchenschafe nicht unerheblich zum Verduschen beigetragen haben, vgl. BR-Dokumentation oder auch BamS vom 23. 1. 22
    und nicht unerwähnt bleiben darf auch, daß die Justiz manchmal doch sehr wohlwollend war und das Unter den Tisch kehren begünstigte …

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