Evangelische Kirche hat durch Missbrauch „Vertrauen verloren“

Bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs standen die Protestanten bisher im Windschatten der katholischen Kirche. Doch nun spricht der scheidende EKD-Ratsvorsitzende Bedford-Strohm deutliche Worte.
Von dpa
Bedford-Strohm

Sieben Jahre hat der bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) geführt. Es gibt Vieles, worauf er stolz ist – zum Beispiel das von der EKD initiierte Bündnis „United4Rescue“, mit dessen Unterstützung Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer etwa 2000 Menschen geborgen haben. Aber in einem Punkt ist er sehr selbstkritisch: „Beim Thema sexualisierte Gewalt bin ich trotz allem, was wir schon angestoßen und erreicht haben, überhaupt nicht zufrieden. Wir haben hier das Vertrauen vieler Menschen verloren, und es ist uns bisher nicht gelungen, es in ausreichendem Maße zurückzugewinnen“, räumt Bedford-Strohm im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur ein.

Der Theologe kandidiert nach siebenjähriger Amtszeit nicht erneut für den EKD-Ratsvorsitz. Am 10. November wird auf der EKD-Synode in Bremen eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger gewählt.

Wenn vom Missbrauchsskandal in der Kirche die Rede ist, dann sind meist die Katholiken gemeint. Doch auch bei den Protestanten hat es sexuellen Missbrauch gegeben, vor allem auch in Kinderheimen der Nachkriegszeit. Die Ursachenforschung steht bei den Protestanten noch am Anfang.

In der katholischen Kirche gilt als wesentliche Ursache für den massenhaften Missbrauch von Kindern das streng hierarchische Machtsystem, in dem allein Männer das Sagen haben. Weitere Ursachen sind nach Einschätzung von Experten die katholische Sexualmoral und die vorgeschriebene Ehelosigkeit der Priester, der Zölibat. All das trifft auf die evangelische Kirche aber nicht zu.

Vor allem Jugendliche Opfer von Missbrauch

Die EKD hat für rund 3,6 Millionen Euro eine Studie angestoßen, die die Ursachen des Missbrauchs erforschen soll. „Die Ergebnisse liegen noch nicht vor, aber wir haben bereits Hinweise darauf, dass bei uns andere Gefahrenquellen und Risikofaktoren vorhanden sind“, sagt Bedford-Strohm. Es sei wohl unter anderem gerade der lockere, mitunter geradezu freundschaftliche Umgang bei den Protestanten, der in Distanzlosigkeit und dann sexualisierte Gewalt umschlagen könne.

„Wir sind ja stärker demokratisch organisiert, nahbarer vielleicht, und das kann dazu führen, dass Menschen, die Verantwortung tragen, Grenzen überschreiten. Unsere Vermutung ist, dass diese Übergänge des Miteinanders eine mögliche Gefahrenzone darstellen.“ Die bisher bekannten Fälle zeigen demnach, dass in Gemeinden weniger Kinder als vielmehr Jugendliche ab 14 Jahren missbraucht worden sind.

Die Aufarbeitung verlief in den vergangenen Jahren auch in der evangelischen Kirche schleppend. „Wir haben viele Dinge gemacht, von denen wir dachten, sie wären der richtige Weg, bei denen sich aber im Nachhinein herausgestellt hat, dass das in den Augen der Betroffenen nicht so war“, räumt Bedford-Strohm ein. Ein Beispiel dafür ist der Betroffenenbeirat, der im September 2020 seine Arbeit aufnahm, im Mai dieses Jahres aber schon wieder ausgesetzt wurde. Dabei wurden Konflikte zwischen EKD und Betroffenenbeirat, aber auch innerhalb des Beirats deutlich.

„Diese Erfahrung ist für uns alle mehr als schmerzlich, sie hält die EKD aber nicht davon ab, die Beteiligung von Betroffenen weiterhin als zentrales Ziel zu verfolgen.“ Bedford-Strohm hofft, dass in der ersten Hälfte 2022 ein neuer Weg der Betroffenenbeteiligung gefunden wird.

„Gemeinsame Erklärung“ abschließen

Eine andere Baustelle ist die Schaffung neuer Strukturen zur Aufarbeitung. Hier ist die EKD seit längerem im Gespräch mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig. Angestrebt wird eine „Gemeinsame Erklärung“, wie Rörig sie im vergangenen Jahr auch schon mit der Deutschen Bischofskonferenz abgeschlossen hat. Darin soll die Gründung unabhängiger Aufarbeitungskommissionen festgeschrieben werden. Doch während Rörig im April noch glaubte, die „Gemeinsame Erklärung“ bereits im Mai unter Dach und Fach zu haben, wird ein halbes Jahr später immer noch darüber verhandelt. Bedford-Strohm versichert: „Die EKD ist dazu bereit, das so schnell wie möglich zu unterschreiben.“

Dass die Kirchen beim Missbrauchsthema ganz besonders im Fokus stehen, ist für den 61-Jährigen völlig klar: „Die moralische Fallhöhe könnte bei uns schließlich nicht größer sein.“ Die Folge: Bedeutungsverlust. Wann taucht zum Beispiel noch ein Kirchenvertreter in einer Talkshow auf? Für die Corona-Pandemie gilt nach Beobachtung von Bedford-Strohm: „Es ist uns nicht gelungen, in den medialen Lagerfeuern der Nation – in den Talkshows oder in den Sondersendungen – mit den Worten des Trostes und der Orientierung vorzukommen, die wir auf unseren eigenen Kanälen die ganze Zeit gesprochen haben.“

Und das ist nur ein Aspekt. „Das Thema sexualisierte Gewalt hat – mit guten Gründen – einen so großen Stellenwert in der öffentlichen Darstellung der Kirche bekommen, dass all die anderen Dinge, die die Kirche jeden Tag tut, all das Gute, all die engagierten Menschen, die sich mit viel Liebe für andere einsetzen, völlig in den Hintergrund tritt.“ Konsequente Aufarbeitung sei die einzig mögliche Antwort darauf.

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5 Antworten

  1. Evangelische Kirche hat durch Missbrauch „Vertrauen verloren“: Nicht nur durch Missbrauch, sondern auch durch „dröhnendes Schweigen“.

    Meiner Meinung sogar durch Geringachtung der Barmer Theologischen Erklärung.

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  2. Es heißt:

    „Die Barmer Theologische Erklärung ist nicht nur das historische Dokument einer mutigen Gegenbewegung, sondern entwirft eine Leitlinie christlichen Handelns, die auch heute noch aktuell ist.“

    So bekennen die Repräsentanten der Kirche(n) zur These 3…

    …dass sie(=die Kirche) eine Gemeinschaft ist, die sich allein an Jesus Christus orientiert und Zeitgeist, Weltanschauungen und Ideologien außen vor lässt.

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  3. Es heißt in These 3:

    „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus, von dem aus der ganze Leib zusammengefügt ist. (Eph 4,15.16)

    Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.

    Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“

    (s.a. „Themenpaket Barmer Erklärung“ der EKiR).

    Dieses passt übrigens auch sehr gut zum 31.10.2021.

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  4. Die zig bekannten und unbekannten Mißbrauchsfälle in beiden Kirchen hängen sicherlich wie ein mahnendes Schwert über der Kirche und ihre verursachenden Seelsorger . Aber es muß auch vieles Bibel aufweichendes in der Schuldfrage mit angeführt werden, wie z. B. die Gender Mentalität und in Sachen Segnung und Heirat, zwischen Gleiche mit Gleichen . Das 500. Luther – Jubiläums – Gedenkjahr 2017 war nicht die schlechteste Idee meiner Kirche aber man hätte langfristig mehr draus machen müssen, bis hin zur manchmal sehr minimalen Pressearbeit der einzelnen Kirchengemeinden.

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    1. Lieber Matthäus53.

      Dein Satz:
      „Aber es muß auch vieles Bibel aufweichendes in der Schuldfrage mit angeführt werden,…“

      deckt sich mit der o.a. These der Barmer Theol. Erklärung:

      „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“

      Jetzt ist da ein Problem: Wenn das stimmt, was wir zwei unausgesprochen denken, dann ist die Glaubwürdigkeit der Kirche tatsächlich in Gefahr.
      Darüber sollte nicht nur auf der Leitungsebene der Kirche(n) „ganz oben“ im EKD-Rat, sondern auch in den Gemeinden selbst diskutiert werden.
      Sind solche Diskussionen überhaupt gewollt?

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