Meinung

Hartmut Rosa: Ohne Kirche ist die Gesellschaft erledigt

Die Welt dreht sich immer schneller, und sie wird immer aggressiver. Der Soziologe Hartmut Rosa zeigt sich in seinem neuen Buch überzeugt, dass die Bibel und die Kirchen eine große Hilfe sein können, um wieder die nötige Resonanz zu finden.
Von Jörn Schumacher
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Die Philosophie des bekannten deutschen Soziologen Hartmut Rosa ließ sich schon immer gut mit dem Selbstverständnis der Kirchen in Einklang bringen. Da ist es nur konsequent, dass der Forscher in seinem neuen Buch explizit die Frage stellt: Ist die Kirche ein überflüssiger Anachronismus, oder braucht die Gesellschaft Kirche vielleicht jetzt sogar mehr denn je?

Rosa, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, legte in seiner Habilitationsschrift erstmals 2004 dar, dass die Gesellschaft einem erschreckenden Beschleunigungsprozess unterliegt. Die moderne, kapitalistische Gesellschaft müsse immerzu wachsen und Produktion und Konsum steigern, um sich überhaupt erhalten zu können. Die Folge: der Mensch entfremdet sich immer mehr von dem, was eigentlich ein „gelingendes“ Leben ist.

In seinem Buch „Resonanz“ schrieb Rosa 2016 darüber, dass vor allem bei Resonanz, einer Verbindung zwischen dem Selbst und der Welt, eine Erfahrung zutage trete, die ein gelingendes Leben darstelle – und nicht etwa im Mehr an Konsum, Wachstum und Geld. Als bestes Beispiel für jene angestrebte Resonanzerfahrung dient dem Soziologen die Musik. Rosa, der selbst regelmäßig in seiner Heimatgemeinde im Hochschwarzwald im Gottesdienst die Orgel spielt, liebt nach eigener Aussage Kirchenlieder und sei geradezu „süchtig“ nach Bach-Chorälen wie „Jesus bleibet meine Freude“, in Bezug auf die Dogmen der Kirche sei er jedoch eher ungläubig. Doch: „Sobald die Orgel erklingt, wird ein religiöser Sinn geweckt. Ich fühle mich aufgehoben in einer Antwortverbindung zwischen mir und dem Urgrund des Seins, oder Gott oder der Natur.“

Sehnsucht nach Resonanzerfahrung treibt die Menschen zu Esoterik

In seinem neuen Buch stellt der Soziologe die Frage, was geschähe, wenn das Ideenreservoir der jahrhundertealten Religion in einer hochmodernen Gesellschaft verloren ginge. Das Buch, das vor kurzem im Kösel-Verlag erschienen ist, beruht auf einen Vortrag, den Rosa beim Würzburger Diözesanempfang im Januar 2022 hielt. Der Wissenschaftler gibt zu Beginn zu verstehen: „Ich habe öfter festgestellt, dass in kirchlichen Kontexten sehr vieles von dem, was ich mir mühsam als Soziologe zusammenreime, schon vorgedacht und auch vorgelebt wird.“

Wenn eine Gesellschaft gezwungen sei, sich permanent zu steigern und zu beschleunigen, dabei aber den Sinn der Vorwärtsbewegung verliert, dann sei sie in einer Krisensituation. Eine solche Gesellschaft suche verzweifelt nach einer alternativen Form der Weltbeziehung, so Rosa. „Wir als Gesellschaft sind in einer ernsthaften Krise und wir bedürfen durchaus religiöser Einrichtungen, Traditionen, Praktiken, Gedankengebäude, Überzeugungen, Riten, um da vielleicht noch herauszufinden.“

Das Streben nach Wachstum sei keineswegs das Resultat von Gier, sondern zur ökonomischen Notwendigkeit geworden. Das führe etwa dazu, dass die Alten länger und die Jungen früher arbeiten sollen. „Unser Verhältnis zur Welt ist aggressiv“, so Rosa, und er bezieht dies auch auf den Umgang mit der Umwelt. Dies wiederum färbe ab auf den Umgang der Menschen untereinander. „Der politisch Andersdenkende wird nicht mehr einfach nur als Dialogpartner, mit dem man sich auseinandersetzen muss, gesehen, sondern als ekelerregender Feind, den man zum Schweigen bringen muss. (…) Entweder erklären wir sie zu Faschisten oder zu sonst was, zu Landesverrätern etwa. Auf jeden Fall sieht man: Dieses Aggressionsverhältnis zur Welt, das aus dem permanenten Steigerungszwang kommt, der überhaupt kein Ende hat, weil es nie befriedet werden kann, übersetzt sich auch in die Politik und es übersetzt sich in die individuelle Lebensführung.“

„Da ist einer, der hat dich gemeint, der hat dich angerufen, der hört dich auch, auch wenn er nicht im Hier und Jetzt verfügbar ist.“

Da bekomme die biblische Losung „Gib mir ein hörendes Herz“ von König Salomo geradezu eine politische Dimension, schreibt der Soziologe. „Früher habe ich immer gesagt, Demokratie funktioniert nur, wenn jede und jeder eine Stimme hat, die hörbar gemacht wird. In letzter Zeit komme ich aber mehr und mehr zur Überzeugung: Es gehören auch Ohren dazu. (…) Der andere soll eben gerade nicht sein Maul halten, weil er sowieso ein Volksverräter oder ein Idiot oder sonst was ist.“

Hartmut Rosa: „Demokratie braucht Religion“, Kösel-Verlag, 80 Seiten, 12 Euro, ISBN 9783466373031

Insbesondere die Kirchen seien es, die über „ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann“, so Rosa. Das fange bereits beim Zeitkonzept an. „Denken Sie nur an Lieder wie ‚Meine Zeit steht in deinen Händen‘ oder an das Kirchenjahr. Manche sagten: „Da passiert ja nix, jedes Jahr das Gleiche, seit 2000 Jahren.“ Rosa erwidert: „Das ist genau der Punkt! Keine Innovation, keine Steigerung, kein Wachstum!“

Nach dem Schreiben des Buches über Resonanz sei ihm klar geworden, dass in der Dreifaltigkeit Gottes ein „Resonanzverhältnis zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist – und vielleicht auch zu uns als Glaubenden“ erkennbar werde. Und viele Menschen hätten nach jener Resonanzerfahrung geradezu eine Sehnsucht, so Rosa. Das erkläre ein starkes Interesse an „New Age“ und Esoterik. „Menschen suchen in Steinen und Kräutern, Bächen und Bergen und in den Sternen nach Resonanzen, wollen sie daran oder daraus wiedergewinnen“, schreibt Rosa.

„Die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, kann nur lauten: Ja!“

Darin liege ihm zufolge die „große Kraft“ des Christentums, dass es eine Art vertikales Resonanzversprechen gebe und klar sage: „Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung.“ Dazu gebe es „unendlich viele Bilder in der Bibel“, die wiederum „ein einziges Dokument des Schreiens, Rufens und Flehens danach“ sei, „gehört zu werden, Resonanz zu finden, Widerhall zu finden angesichts einer schweigenden Sternenwelt. (…) Da ist einer, der hat dich gemeint, der hat dich angerufen, der hört dich auch, auch wenn er nicht im Hier und Jetzt verfügbar ist.“ Als Soziologe habe er sich oft gefragt: Wenn einer betet, richtet der sich eigentlich nach außen oder nach innen? „Und die erstaunliche Erkenntnis war: nach beidem zugleich. Das Wesen meiner Existenz ist eine Resonanzbeziehung.“

Abschließend stellt der Soziologe in diesem lesenswerten, nur 80 Seiten umfassenden Buch mit dem Titel „Demokratie braucht Religion“ fest: „Wenn die Gesellschaft das verliert, wenn sie diese Form der Beziehungsmöglichkeit vergisst, dann ist sie endgültig erledigt. Und deshalb kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch der Kirche oder der Religion bedarf, nur lauten: Ja!“

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15 Antworten

  1. Hartmut Rosa: Ohne Kirche ist die Gesellschaft erledigt. Blödsinn. Obwohl die Kirchen sicher viel tun im sozialen Bereich, aber da gibt es Andere, die das auch tun. Es gibt auch genug Freikirchen und Gemeinschaften, wo die Menschen Gottes Wort hören können (ja, richtig! Gottes Wort!)…. Die Kirchen sind doch eh überwiegend leer…

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    1. in seinen Überlegungen hat Rosa offensichtlich Freikirchen, Kirchen, Gemeinschaften unter dem Sammelbegriff „christliche Kirchen“ subsummiert.

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      1. Aha. Die selbst würden sich aber sicher nicht unter „die Kirche“ zählen. Eher zur „Gemeinde Jesu“. Aber gut. Dann ergibt der Text von Rosa tatsächlich Sinn für mich. Danke.

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    2. Es geht hier nicht um die „Volkskirchen“. Es geht um Kirche im Allgemeinen. Dazu gehören „Freikirche“ und „Gemeinschaften“.
      Allerdings ist die Frage berechtigt: Was für eine Kirche braucht die Gesellschaft?

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    3. Aber hallo, lieber Eckhard,
      Freikirchen sind doch auch Kirchen. Letztendlich kommt es bei allen und in allen Kirchen darauf an, wie der Glaube nach Mt. 28.18- 20 verkündet und praktiziert wird. Ob heute nur noch Glockengeläut als Einladung zum Gd. ausreicht oder ob zum Gd. mit guten Presse – oder Internet Auftritt eingeladen werden müßte , daß ist im modernen „Internet Zeitalter“ die all umfassende Frage. Brauchen wir vielleicht Pfarrer die die Liturgie gut beherrschen oder eher welche die den Predigttext wie 1 Politiker oder 1 Entertainer ans Volk vermitteln können ? Da den Mittelweg zu finden , daran “ basteln“ schon lange viele dran und so mancher Kirchenskandal verursachte imner wieder Rückschläge die nicht notwendig gewesen wären. Und so stehen unsere Kirchen immer noch gut sichtbar überall so rummm! aber wer und wie werden sie mit religiösen Leben neu gefüllt ?

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      1. Ja, obwohl sie sich sicher nicht unter „die Kirche“, von der Rosa spricht, packen lassen würden. Sich eher zur „Gemeinde Jesu“ zählen würden. Ich hab mich aber da schon hinsichtlich Kommentar von @Wander, siehe oben, geäußert. Und mich korrigiert.

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  2. Frage an die Kirche(nleitung):

    Wer ist das „Haupt“, der „Herrscher“, der „König“ der Kirche?

    Mögliche Antworten könnten sein:

    – Die Wissenschaft im Allgemeinen
    – Die Technologieen
    – Die Digitalisierung
    – Die moderne Medizin, die doch immer wieder an ihre Grenzen kommt
    – Der Mensch selbst

    (Bitte die Liste selbst fortschreiben.)

    EG 123:
    https://www.evangeliums.net/lieder/lied_jesus_christus_herrscht_als_koenig.html

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    1. Meine Antwort passt nicht in diese Liste. Ich halte es mit der Aussage in dem alten Choral: „Jesus Christus herrscht als König, alles wird Ihm untertänig, alles legt Ihm Gott zu Fuß. Aller Zunge soll bekennen: Jesus sei der HERR zu nennen, dem man Ehre geben muss.“ Das kommt aber erst noch! Noch regiert der „Fürst dieser Welt“, der Satan, die Erde. Die Zukunft aber gehört Jesus Christus. Für wiedergeborene Christen ist ER schon jetzt der HERR.

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  3. Etwas ausführlicher legt Prof. Rosa seine sehr klugen, nachdenkenswerten Einsichten in einem Interview des DLF vom 28. Oktober dar:
    https://www.deutschlandfunk.de/demokratie-braucht-religion-der-soziologe-hartmut-rosa-im-gespraech-dlf-bea5aa62-100.html
    Es geht Rosa nicht um eine Lehre der Kirche oder ein Tun – etwa in sozialkaritativen oder gesellschaftspolitischen Kontexten -, sondern um ein neues In-der-Welt-Sein, um ein transzendenz- und alteritätsoffenes Weltverhältnis, um Hören-können, um sich Ansprechen-lassen, ohne die der Mensch und die Gesellschaft verarmen und in ein Aggressionsverhältnis zu sich selbst, zur Umwelt und zum anderen treten. Sehr bedenkenswert!
    Diese Einsichten – unverstandener Weise und ohne sie zu kennen – kurzerhand als „Blödsinn“ abzutun, ist freilich vollumfänglich töricht!

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    1. Als Rückzugsort der Ruhe und Besinnung und (hoffentlich) Stätte der Glaubensvermittlung verstanden gebe ich Rosa recht. Obwohl er sich m.E. in seiner Wortwahl etwas „mystisch“ ausdrückt. Das verstehen nicht alle „Ungebildeten“..

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  4. Ohne Kirche Gott und Religion wird die Moral und der Zusammenhalt in der Gesellschaft verschwinden

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  5. Jetzt öffnet sogar der renommierte Soziologe Hartmut Rosa noch einen Ablenkungsbereich. Religion ist und bleibt das Opium des Volkes. Wir haben viel zu viel Einfluss der Religion und auch der Kirchen auf die Gesellschaft. Selbst in Deutschland. Was sagt Rosa zu Katar, Iran, Russland etc. und dem Einfluss der Religion und der Kirche. Religion ist Privatsache und soll es auch bleiben. Spiritualität, was Rosa wahrscheinlich meint, ist ganz ohne Religion zu haben. Kritische Theorie, das war einmal. Wann engagieren wir uns wieder für Gerechtigkeit?

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    1. Ihr atheistisches Bekenntnis in allen Ehren, es ist aber ein Bekenntnis und in vielerlei Hinsicht empirisch bestreitbar.
      Wenn Sie sich mit Rosa beschäftigt hätten, könnten Sie einräumen, dass er durchaus etwas zu den toxischen Seiten der Religion sagt und von diesen eben nicht ablenkt.
      Dass Spiritualität nicht nur in der Religion zu haben ist, würde Rosa ebenfalls nicht bestreiten.
      Und die „kritische Theorie“ war und ist – von Benjamin angefangen bis hin zum Alterswerk von Jürgen Habermas – nicht so religionsfeindlich, wie Sie das hier wohl andeuten möchten.

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  6. Ich finde es ein bisschen gewagt, wenn der Hartmut Kirche als Gegengewicht zum Wachstumswahn sieht. Kirchen wollen auch wachsen. Man könnte sogar argumentieren, dass mit Religion der ganze Wahnsinn angefangen hat. Sind Opfer nicht auch Tauschgeschäfte mit der jeweils vorherrschenden Gottheit? Geb ich dir, gibst du mir: gutes Wetter, materiellen Wohlstand, ewigen Frieden? Ausser anekdotischer Evidenz hat der Hartmut leider nichts zu bieten.

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