Ein kritischer Blick zurück

Beim 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag gab es in vier Tagen etwa 2.500 Veranstaltungen. Jeder, der dabei war, wird einen ganz eigenen Blick auf den Kirchentag bekommen haben. Fünf Punkte sind den pro-Redakteuren, die aus Berlin und Wittenberg berichtet haben, aufgefallen.
Von PRO
Das Messegelände in Berlin war der Hauptveranstaltungsort des Kirchentages

1.) Der Geist weht, wo er will – auch in Berlin

„Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin“, heißt es in einem alten Gassenhauer. Den Aufruf nehmen jährlich knapp 13 Millionen Menschen war – verrückt sind die beileibe nicht alle. Doch egal ob verrückt, normal, laut oder leise: Die Berlintouristen, die wegen des Kirchentags kamen, waren anders und haben die Stadt zum Positiven verändert.

Wann sonst sitzen Teenager abends mit Gitarre und Kerzen vor dem Reichstag und singen fromme Lieder? Wann sonst kommen 140.000 Menschen fünf Tage lang zu einer Großveranstaltung zusammen und kein einziger Zwischenfall wird bekannt? Wann sonst sind die Kirchen der Stadt so voll? Wann sonst beten Zehntausende gemeinsam das Vater Unser? Die Polizei muss ihre Freude an den friedlichen Christen gehabt haben – wie gut, dass dieses Klischee keines ist, sondern der Realität standhält.

Und wie offenbar wurde der Unterschied zu anderen massentouristischen Anlässen am Samstag! Fußballfans mögen diesen Kommentar verzeihen, aber wer sich kurz vor dem Pokalfinale auf den Breitscheidtplatz verirrte, wo eine der teilnehmenden Mannschaften traditionell ihr Fanlager aufschlägt, fand das Übliche vor: zerworfene Flaschen, betrunkene Fans, grölende Massen.

Die Berliner mag der Kirchentag wegen der zahlreichen Straßensperrungen und vollen S-Bahnen belastet haben. Aber eins ist sicher: Ein derart dankbares und friedvolles Publikum findet die Hauptstadt so schnell nicht wieder. Von Mittwoch bis Samstag hat wahrlich ein anderer Geist in Berlin geweht.

Anna Lutz

„Du siehst mich“ sagte Abrahams Magd über Gott, als der ihr in ihrer Not half (1. Mose 16,13). Diese Aussage war das Motto des Kirchentages Foto: pro/Jonathan Steinert
„Du siehst mich“ sagte Abrahams Magd über Gott, als der ihr in ihrer Not half (1. Mose 16,13). Diese Aussage war das Motto des Kirchentages

2.) Sehen und gesehen werden

„Du siehst mich“ war das Motto des Kirchentages. Und tatsächlich: Er war nicht zu übersehen. Wo man auch war in Berlin, am Alexanderplatz, in Grunewald, in der U-Bahn, im Monbijou-Park – überall liefen Menschen mit orangefarbenen Kirchentags-Schals herum. Quer über die Stadt verteilt gab es orange-weiße Wegweiser zu den Räumen, wo Veranstaltungen stattfanden, ganz zu schweigen von den Bannern und Plakaten des Kirchentages, die an Kirchen ebenso wie an Bauzäunen hingen.

Auch medial war der Kirchentag präsent wie kein anderes kirchliches Ereignis – durch Berichterstattung wie auch durch Übertragungen einzelner Gottesdienste und Veranstaltungen. Es ist gut, wenn Kirche öffentlich wahrnehmbar ist. Nur dann kann sie in die Welt hineinwirken. Der Kirchentag hat das in beispielhafter Weise vorgemacht.

Das sollten sich Christen und Gemeinden auch nach diesem Großereignis zu eigen machen: So zu leben, dass sie ihren Ort, die Menschen ihres Umfelds „im Blick“ haben – und auch von ihnen gesehen werden. Christen, die sich hinter die Mauern ihrer Gemeinderäume und Kirchen zurückziehen, werden kaum jemanden mit dem Evangelium bekannt machen können.

Jonathan Steinert

An politischer Prominenz fehlte es auf dem Kirchentag nicht: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU; 2.v.l.) traf sich bei einem Podiumsgespräch mit Barack Obama, Ex-Präsident der USA (2.v.r.) Foto: pro / Nicolai Franz
An politischer Prominenz fehlte es auf dem Kirchentag nicht: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU; 2.v.l.) traf sich bei einem Podiumsgespräch mit Barack Obama, Ex-Präsident der USA (2.v.r.)

3.) Mehr Theologie wagen

„Linksgrün-versiffter Gutmensch“ steht auf dem Aufnäher eines jungen Kirchentagbesuchers, der das Label mit sichtbarem Stolz trägt. Doch wer meint, der ganze Kirchentag sei ein Sammelbecken für ausschließlich Linksliberale, der irrt. Natürlich stechen Kuriositäten wie eine feministisch-muslimische Dialogbibelarbeit in der Berichterstattung stärker heraus als der pietistisch geprägte Christustag, der ebenfalls seinen Platz in Berlin hatte.

Doch politisch war der Kirchentag durchaus ausgewogen: Kanzlerin Angela Merkel (CDU) durfte sich vor dem Brandenburger Tor bei bestem Berliner Wetter und im Glanze Barack Obamas vor 70.000 Gläubigen sonnen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) besetzte gleich mehrfach die Podien des Kirchentags. Natürlich hatten auch der nichtgläubige Katholik Martin Schulz (SPD) und der Grünen-Politiker Volker Beck ihre Auftritte. Mit Frank-Walter Steinmeier, der auch mehrmals in Erscheinung trat, wäre eigentlich ein Sozialdemokrat als Kirchentagspräsident für 2019 vorgesehen gewesen, wenn ihm nicht die Bundespräsidentschaft dazwischen gekommen wäre.

Klingt alles sehr politisch – und das ist es auch. Der Evangelische Kirchentag ist eben keine rein geistliche Veranstaltung, sondern versteht sich auch als Schnittstelle zwischen Kirchen, Politik und Gesellschaft. Der Staat unterstützt den Kirchentag mit Beträgen in Millionenhöhe. Natürlich darf und soll die Kirche auch politisch sein.

Auf dem Kirchentag hätte ich mir allerdings mehr theologische Rückbindung gewünscht. Will meinen: Politische Forderungen dürfen kein bloßer Selbstzweck sein, weil sie sich mit den eigenen Ansichten decken, sondern sie sollten aus dem Glauben erwachsen und begründet sein.

Ein Beispiel: In einer politischen Gebetsnacht, unter anderem von der Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ ausgerichtet, beteten Kirchentagsbesucher für das Recht aller Menschen, ihre Religion frei auszuüben. Das ist begrüßenswert. Das Leid der verfolgten Christen im Neuen Testament und die besondere Solidarität der weltweiten Kirche – in der Bibel auch als „Leib“ bezeichnet – kamen allerdings so gut wie nicht zur Sprache – schade.

Und zugegeben, es schmerzen irgendwann die Ohren, wenn Geistliche monothematisch in ihren Andachten zum x-ten Mal über Flüchtlingshilfe und soziale Gerechtigkeit sprechen und von „Menschen, die mit uns auf dem Weg sind“ – wer auch immer das ist. Vielleicht sind es die sozial Schwachen und Abgehängten, die Vernachlässigten, die Asylsuchenden. Doch genau diese Menschen dürften sich vom intellektuellen, wenig konkreten und seltsam poetischen Auftreten der Kirche nicht angesprochen fühlen. Hier offenbart sich eine eklatante Schwäche des Mainstream-Protestantismus: „Die Kirche verreckt an ihrer Sprache“, schrieb der Berater Erik Flügge. Das hat sich auch mit diesem Kirchentag nicht geändert.

Nicolai Franz

Bei dem interreligiösen Musikprojekt „Trimum“ feierten Christen, Juden und Muslime ein „Fest der Verschiedenheit“ Foto: idea/kwerk.eu
Bei dem interreligiösen Musikprojekt „Trimum“ feierten Christen, Juden und Muslime ein „Fest der Verschiedenheit“

4.) Um welchen Glauben geht es hier eigentlich?

Beinahe hätte es anlässlich des Evanglischen Kirchentags in Berlin einen Zweiklang aus Muezzinrufen und Kirchenglockenläuten gegeben. Das zumindest erklärten die Verantwortlichen bei einer Pressekonferenz am Samstag. Das Event musste ausfallen, aber nicht etwa, weil die Christen Zweifel bekommen hätten. Es scheiterte an der mangelnden Einigkeit der Muslime untereinander. Zum Glück.

Denn wenn man dem Kirchentag eines vorwerfen kann, dann, dass er die Gemeinschaft der Religionen zu stark betont und dabei das evangelische Profil auf der Strecke bleibt – ein Armutszeugnis, gerade im Jahr des 500. Reformationsjubiläums. Das soll nun nicht falsch verstanden werden: Interreligiöser Dialog ist wichtig und ohne ihn geht es in Berlin nicht. Dass Gläubige verschiedener Religionen gemeinsam soziale Projekte stemmen und sich begegnen: geschenkt.

Aber ob in einer Kirche und während eines Kirchentagsgottesdienstes arabische Koransuren an den Wänden hängen müssen, das darf man schon fragen. Ob Christen gemeinsam mit Muslimen den Beginn des Fastenmonats Ramadan begehen müssen, wie am Freitag geschehen, ebenfalls. Und um es nicht nur am Islam festzumachen: Dass vor dem Eröffnungsgottesdienst am Reichstag von der Bühne herab Klangschalen zu hören waren, irritiert. Ja, es muss nicht immer die gute alte Orgel sein, aber ein Instrument, dass vor allem in der buddhistischen und esoterischen Szene beliebt ist, als Anregung für den Beginn des Kirchentages zu nutzen… tut das Not?

Gottesdienste, Abendmahlsfeiern, Glockengeläut – das alles ist Teil spiritueller christlicher Praxis. Es ist Gotteslob und Gottesgedenken. Wer auf einen Evangelischen Kirchentag geht, darf mit Recht erwarten, dass es für den Gott reserviert ist, den Christen aus der Bibel kennen.

Anna Lutz

Als Finale des Kirchentages feierten rund 120.000 Menschen auf den Elbwiesen bei Wittenberg einen Festgottesdienst Foto: pro/Jonathan Steinert
Als Finale des Kirchentages feierten rund 120.000 Menschen auf den Elbwiesen bei Wittenberg einen Festgottesdienst

5.) Dank sei dir, Gott

Es war ein Sonntag, wie er im Buche steht: Sonne satt, fröhliche Menschen, gute Musik, eine große Wiese. Wenn 120.000 Menschen bei schönem Wetter unter freiem Himmel zusammen Gottesdienst feiern, ist das ein besonderes Erlebnis. Wenn sie gemeinsam mit über 6.000 Bläsern, einem Chor und Orchester in das Lob Gottes einstimmen, ist das Gänsehaut. Wenn Christen aus dem ganzen Land – und aus anderen Ländern – zusammen Abendmahl feiern, bekommt man ein Gefühl davon, was es heißt, ein Glied vom Leib Christi zu sein.

Selbst wenn man es für überdimensioniert und wahnwitzig gehalten haben mag, die Kirchentagsbesucher zum Abschlussgottesdienst nach Wittenberg zu kutschieren und dort – angewiesen auf gutes Wetter – einen Mega-Gottesdienst zu veranstalten: Es war ein bewegendes und beeindruckendes Erlebnis.

Wie dem gesamten Kirchentag kann man dem Finale vorwerfen, dass der Fokus mehr auf Fragen des politischen und gesellschaftlichen Engagements lag als auf dem Evangelium. Aber andererseits: Der Kirchentag hat signalisiert, dass die Kirche, dass Christen eine ernstzunehmende Stimme in unserer Gesellschaft sind; eine Stimme, die bereit ist, viel dafür zu geben, dass die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit in der Welt ein Stück Wirklichkeit wird – weil sie die Liebe Gottes hinter sich weiß.

Dass der Staat dies anerkennt, wertschätzt und unterstützt – finanziell wie auch durch persönliches Engagement von Politikern –, ist keine Selbstverständlichkeit. Ebensowenig, dass es überhaupt möglich ist, so ein Ereignis in Frieden und Freiheit durchzuführen. Das hat nicht zuletzt der Anschlag auf koptische Christen in Ägypten dieser Tage wieder vor Augen geführt.

Dass alles weitgehend reibungslos verlief, ist sicher der sehr professionellen Organisation und dem Einsatz der vielen ehrenamtlichen Helfer zu verdanken. Vor allem aber Gottes Gnade. Es wäre schön, wenn dieser Dank an ihn ebenso öffentlich vom Kirchentag selbst zu hören wäre, wie seine politschen Aufrufe.

Jonathan Steinert

(pro)

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