Regierungsbildung: Neu gemischt

Die Bundestagswahl hat die Farben im Parlament neu gemischt. Machtverhältnisse haben sich geändert. Wer das Land in welcher Konstellation führen wird, ist unsicher. Christen können nach der Wahl eine besondere Verantwortung wahrnehmen: die Abgeordneten im Gebet begleiten.
Von Jonathan Steinert

Deutschland hat gewählt, das Volk hat gesprochen – und einen Machtwechsel herbeigeführt. Dass die diesjährige Bundestagswahl eine historische Zäsur sein würde, war schon im Vorfeld klar: Zum einen natürlich, weil Angela Merkel nicht noch einmal antrat und ihre Amtszeit nach 16 Jahren im Kanzleramt zu Ende geht. Zum anderen aber auch, weil sich abzeichnete, was schließlich eintrat: Die CDU fuhr das mit Abstand schlechteste Ergebnis ein, das sie je bei einer Bundestagswahl hatte. Sie landete damit erstmals seit 1998 wieder hinter der SPD. Die ist zwar stärkste Kraft geworden, mit gut 25 Prozent hat sie aber ebenfalls keinen Höhenflug gemacht. Das führte zu einem weiteren Novum: eine Koalition aus drei Partnern, sofern die Große Koalition nicht unter SPD-Führung weitermacht. Aber davon ist zumindest in den ersten Tagen nach der Wahl keine Rede. 

Gewonnen haben neben den Sozialdemokraten die Grünen und die Liberalen. Bei den jüngeren Wählern unter 30 Jahren waren sie überdurchschnittlich erfolgreich. Dass sich Macht- und Mehrheitsverhältnisse ändern, politische Ämter kein Selbstläufer sind, ist ein gutes Zeichen dafür, dass die Demokratie funktionert. Diese Wahl hat gezeigt, dass eine Stimmabgabe nicht nur ein formaler Akt ist. Die Bürger wählen ihre politischen Vertreter. Dass es dabei buchstäblich auf jede einzelne Stimme ankommen kann, zeigt das Beispiel von Lars Rohwer (CDU): Er gewann in seinem Wahlkreis im Westen Dresdens das Direktmandat mit einem Vorsprung von gerade einmal 39 Stimmen.

Lebensschutz könnte liberalisiert werden

Die Bürger verleihen Macht auf Zeit und können mit ihrer Stimme politische Verhältnisse verändern. Das betrifft nicht nur das Personal, sondern auch die Themenschwerpunkte, für die die Abgeordneten und ihre Parteien stehen. Unter einer Ampel-Koalition etwa wird es sicherlich stärker um Rechte und Interessen von Homo- und Transsexuellen gehen, als dies bisher der Fall war oder unter CDU-Führung wäre. Rechtliche Formen für alternative Familienformen und Verantwortungsgemeinschaften könnten geschaffen werden. Und sehr wahrscheinlich wird das Werbeverbot für Abtreibungen mit Rot-Gelb-Grün gestrichen. Schließlich sind alle drei Parteien dafür. In Sachen Lebensschutz könnte es sogar noch weitere Liberalisierungen geben. Sowohl die SPD als auch die Grünen wollen den Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch streichen. Darin werden Abtreibungen geregelt, zum Beispiel durch die Fristenlösung und Beratungspflicht. Der historische, mühsam erreichte Kompromiss, den Union, FDP und SPD 1995 gemeinsam durch das Parlament brachten, droht damit zu kippen. Die FDP hat diese Forderung zwar nicht im Wahlprogramm. Doch es ist nicht zu erwarten, dass die Liberalen ausgerechnet diesen Punkt zur roten Linie erklären. Lebensschutz ist natürlich für Christen nicht der einzige wichtige Punkt – zu dem es auch unterschiedliche Haltungen gibt. Doch er gehörte in den vergangenen Jahren eindeutig hinzu. Gut möglich, dass sich nach der „Ehe für Alle“ in Sachen Abtreibung eine weitere Liberalisierung andeutet, an der sich Konservative stoßen – und die wohl nur schwer rückgängig gemacht werden kann.

Bei Verhandlungen zu einer Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen könnten diese Themen zu größeren Spannungen führen, da die Union sich stärker am klassischen Familienbild orientiert. Aber Demokratie bedeutet auch Kompromiss und Ausgleich. Bliebe jeder bei seiner Maximalforderung, würde sich Politik selbst blockieren. Umso mehr, wenn in einer Ampel- oder Jamaika-Koalition drei Parteien zueinander finden müssen, die teilweise sehr unterschiedliche politische Vorstellungen und Themenschwerpunkte haben. Das eine oder andere Ziel aus dem Wahlprogramm kann daher den Koalitionsverhandlungen zum Opfer fallen. Trotzdem haben gerade Grüne und Liberale ihre Haltungen klar gemacht. Mit der FDP werde es keine Steuererhöhungen geben, wiederholte deren Vorsitzender Christian Lindner im Wahlkampf gebetsmühlenartig. Die Grünen machten ihrerseits zur Maßgabe, eine „Klimaregierung“ bilden zu wollen. Ob beides mit Scholzens SPD oder mit Laschets Union am besten funktioniert, ließen sie offen. Damit war schon vor der Wahl klar: Es gibt keine eindeutig abgegrenzten Lager. Als 1998 zum bislang letzten Mal eine CDU-Bundesregierung abgewählt wurde, hatten die Bürger die Wahl zwischen Rot-Grün oder Schwarz-Gelb. Am Wahlabend stand fest, welches Lager gewonnen hatte, der Koalitionsvertrag galt als Formsache. 2021 sind die Karten anders verteilt. Unsicherheit, wer das Land führen wird, ist die Folge.

„Der Aufruf des Propheten Jeremia lässt sich auf unser Gemeinwesen heute auch anwenden: ‚Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn. Denn wenn’s ihr wohl  geht, geht’s euch auch wohl.‘“

Insgesamt 735 Abgeordnete hat das Wahlvolk der Bundesrepublik in das Parlament gewählt. Die wenigsten von ihnen werden über ihren Wahlkreis hinaus einer größeren Öffentlichkeit bekannt werden. Das heißt nicht, dass sie nichts tun oder bewegen könnten. Einer, der seiner politischen Arbeit meist jenseits der Fernsehkameras und Fotoapparate nachging, war Frank Heinrich (CDU). Der Theologe und Sozialpädagoge leitete mehrere Jahre lang die Heilsarmee in Chemnitz, bevor er 2009 in die aktive Politik ging. In der vergangenen Legislaturperiode war er einer von zwei Freikirchlern im Parlament, er engagiert sich auch in der Deutschen Evangelischen Allianz. Als Obmann der Union im Menschenrechtsausschuss setzte er sich unter anderem gegen Menschenhandel und Zwangsprostitution ein. Er gründete das Netzwerk „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ und initiierte mit der SPD-Abgeordneten Leni Breymaier einen fraktionsübergreifenden Arbeitskreis zu diesem Thema mit dem Ziel, ein Sexkaufverbot zu erreichen, das die Freier bestraft und die Frauen entkriminalisiert: Das sogenannte „Nordische Modell“. Sein Mandat hat er nun allerdings verloren. 

Besondere Verantwortung von Christen

Der Politikbeauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz, Uwe Heimowski, zeigte sich im Gespräch mit PRO „ausgesprochen traurig“ darüber. „Frank Heinrich ist ein engagierter Christ, der sich immer wieder öffentlich zu seinem christlichen Glauben bekannt hat“, sagte er. Der aber auch erlebt hat, dass andere Christen ihm wütende Nachrichten schicken und dabei die Bibel zitieren, anstatt sachlich über kontroverse Ansichten zu diskutieren und Argumente auszutauschen. Heinrich zeigte sich Anfang dieses Jahres gegenüber PRO schockiert darüber, dass manche Christen Bibelzitate benutzten, um die Corona-Politik zu kritisieren. Angela Merkel sei in solchen Zuschriften etwa vorgeworfen worden, Gott zu spielen, sie sei verflucht und beleidigt worden. Da sei von der „Hure Babylon“ die Rede gewesen, personifiziert in der Bundeskanzlerin. Andere hätten von der Endzeit geschrieben und davon, dass Politiker sich vor Gott verantworten müssten für ihre Taten. Politiker anderer Fraktionen machten ähnliche Erfahrungen. Heimowski betont, solche Extremäußerungen aus dem frommen Lager seien die Ausnahme.

Weiterhin werden dem Parlament bekennende Christen mit Nähe zur Evangelischen Allianz und zu Pietisten angehören. Dazu zählen etwa die CDU-Politiker Steffen Bilger, Volkmar Klein und Hermann Gröhe. Trotzdem zeigt der neue Bundestag: Die Stimme gläubiger Christen wird im Parlament zumindest nicht gestärkt. Christen sollten als ihre bürgerliche Verantwortung nicht nur die Abstimmung am Wahltag wahrnehmen; sondern die von ihnen gewählten Politiker auch begleiten – im Gebet und natürlich mit kritischen, aber aufrichtigen Fragen und Rückmeldungen. Und Christen sollten dazu beitragen, dass fair und respektvoll über Volksvertreter und ihre Entscheidungen gesprochen wird. Der Aufruf des Propheten Jeremia lässt sich auf unser Gemeinwesen auch anwenden: „Suchet der Stadt Bestes … und betet für sie zum Herrn. Denn wenn’s ihr wohl geht, geht’s euch auch wohl.“ (Kapitel 27,9). Das gilt vor einer Wahl genauso wie danach.

Von: Jonathan Steinert und Nicolai Franz

Dieser Text erschien zuerst in der Ausgabe 5/2021 von PRO – das christliche Medienmagazin. Sie können die aktuelle Ausgabe hier bestellen.

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Eine Antwort

  1. Das ist ein fairer, ausgewogener Artikel, der mir sehr gefallen hat. Vielen Dan!
    „Aufgehorcht habe ich“, dass Frank Heinrich ( a u c h ) beklagt, wie er erlebt hat, dass
    sogenannte „frömmlerische“ Christen immer mal wiede lieblose Kommentare schreiben und die dann auch noch auf perfide Art mit Bibelzitaten „würzen“.

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