„Der Wähler soll sich nicht beschweren“

Die Bundestagswahl ist vorbei, die Politik sortiert sich und die Coronakrise neigt sich dem Ende zu – und jetzt? PRO hat mit Politik-Urgestein Wolfgang Thierse darüber gesprochen, wie es nun weitergeht mit der Demokratie in Deutschland.
Von Anna Lutz
Der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Thierse (SPD), erwartet von seiner Kirche Widerborstigkeit, nicht Stromlinienförmigkeit

PRO: Herr Thierse, war es jemals so schwer, eine Wahlentscheidung zu treffen wie in diesem Jahr?

Wolfgang Thierse: Es ist nicht schwer, man musste sich nur entscheiden. Zur Demokratie gehört es, dass man sich informiert, Programme liest, Alternativen abwägt und sich fragt: Wem traue ich die Gestaltung der Zukunft zu?

2021 waren die Wähler mit mehr Parteien, Kanzlerkandidatinnen und -kandidaten und Koalitionsmöglichkeiten konfrontiert als je zuvor in der Bundesrepublik. Ist diese Vielfalt gut oder schlecht für unsere Demokratie?

Weder noch. Es ist das Ergebnis des Wählerverhaltens. Politiker wünschen sich klare Mehrheiten. Der Wähler hat anders entschieden. Nun soll er sich nicht darüber beschweren.

Woher kommt diese neue Vielfalt im Wählerverhalten?

Wir leben in Zeiten dramatischer Veränderungen. Die Globalisierung entgrenzt und beschleunigt alle ökonomischen, wissenschaftlichen, technischen und kommunikativen Entwicklungen. Die notwendige Verhinderung der drohenden ökologischen Katastrophe verändert unsere Produktions- und Lebensweise. Die digitale Transformation verändert unsere Arbeit. Die innere Pluralisierung unserer Gesellschaft – ethnisch, kulturell, sozial, religiös, weltanschaulich – ist anstrengend. Genauso wie die außenpolitischen Ungewissheiten, die Weltunordnung, in der wir uns befinden. Das alles erzeugt Unsicherheiten und Ängste bei vielen und erweckt das Bedürfnis nach einfachen, klaren Antworten. Es schlägt die Stunde der Populisten, der großen Vereinfacher und Schuldzuweiser. Und andererseits macht es die Arbeit der Politiker viel schwieriger. Statt Heilsversprechen abzugeben, müssen sie zugeben, dass all diese dramatischen Veränderungen eben nicht ganz einfach von heute auf morgen zu lösen sind. Sie müssen schwierige, anstrengende Antworten geben.

Und das kann zu Stimmverlusten bei den großen Parteien führen?

Ja. Es führt zur Vielfalt des Wahlverhaltens, weil es eben viele Menschen gibt, die die einfachen, klaren Antworten hören möchten. Heute kann kein Politiker einfach auf Bekanntheit und Beliebtheit setzen. Dazu sind Veränderungsdramatik und Unsicherheit in der Bevölkerung zu groß.

GroKo, Jamaika, Ampel, Deutschlandkoalition, Rot-rot-grün – wer soll da noch durchblicken?

Wer durchblicken will, wer sich also informiert, der kann das auch. Es ist die Pflicht aller demokratischen Parteien, miteinander vernünftig zu reden. Und das braucht Zeit. Ich kann die Wähler nur um Geduld bitten für die Koalitionsverhandlungen. Ich wünsche mir jedenfalls, dass wir nicht wieder solche Schaukämpfe erleben wie 2017, als sich Politiker bei den Verhandlungen immerfort auf irgendwelchen Balkonen zeigten und am Ende dann doch die Jamaika-Koalition nicht zustande kam. Bitte: Keine Inszenierung mehr. Dafür ernsthafte Gespräche, vernünftigerweise hinter verschlossenen Türen.

Der Bundestag hat am Donnerstag darüber abgestimmt, wie mehr Menschen dazu gebracht werden können, Organe zu spenden (Archivbild) Foto: Deutscher Bundestag / Thomas Köhler/photothek.net
Ende Oktober konstituiert sich der neue Deutsche Bundestag. Eine neue Regierung wird es dann noch nicht geben.

Seit März 2020 leben wir in einer Pandemie, der Bundestag hat eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Das bedeutet, dass die Bundesregierung vielerlei im Alleingang entscheiden kann. Es gab den Vorwurf, Frau Merkel setze sich hinter verschlossenen Türen mit den Ministerpräsidenten zusammen und nach acht Stunden würden übermüdet vorschnelle Entscheidungen ohne demokratische Legitimation getroffen.

Diese Art von Vorwürfen finde ich ziemlich schäbig. Was ist die Pflicht des Staates? Im Grundgesetz, Artikel 2, Absatz 2, steht: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Das heißt, der Staat ist verpflichtet, das Leben der Bürger zu schützen. Es ist also seine Schuldigkeit, alles zu tun, was gegen eine solche Pandemie hilft und davor schützt. Und er darf dabei nicht rumtrödeln.

Aber wäre es nicht auch anders gegangen? Hätten die Debatten nicht dennoch in den Parlamenten geführt werden müssen anstatt hinter verschlossenen Türen?

Das ist doch passiert. Aber zunächst einmal war ein unerhörter Entscheidungsdruck da in einer Art von Notstand. Da ist es nicht zuträglich, stunden-, tage- und wochenlang zu diskutieren, wie es normalerweise der Fall ist. Die Ansteckungszahlen wuchsen exponentiell. Der Schrecken der Bilder aus Bergamo ist uns doch allen in die Knochen gefahren und wir wussten, wir müssen ganz schnell reagieren. Anders, als es in Italien geschehen ist. Der Bundestag hat die Entscheidungen der Bund-Länder-Runde übrigens legitimiert – in einer zweiten Runde im Nachhinein. Die öffentlichen Debatten gab es. Also wer nun behauptet, dass nicht genügend informiert worden sei über die Strategien zur Bewältigung der Pandemie, der muss verschlossene Ohren haben.

Über die Fortsetzung der Pandemie­lage entscheidet der Bundestag regelmäßig neu, zuletzt Ende August. 325 Parlamentarier waren dafür, 253 dagegen. Wie hätten Sie gestimmt?

Ich hätte zugestimmt, weil ich glaube, dass wir noch nicht durch sind. Uns steht nach allen Prognosen eine vierte Welle bevor. Und je weniger geimpft sind, desto fürchterlicher wird sie. Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, verhalten sich extrem unsolidarisch. Ihnen ist ihre individuelle Freiheit wichtiger als das Leben der Nachbarn. Wir müssen neu lernen, dass Freiheit angesichts dieser Pandemie auch heißt, verantwortlich auf sein Umfeld zu schauen und nicht nur auf sich selber.

Sollte es zuvor erneut zu einem Lockdown kommen, werden davon am ehesten die Ungeimpften betroffen sein. Schon heute gilt vielerorts, dass nur noch Geimpfte und Genesene Zutritt haben. Die Spaltung der Gesellschaft wird sich dadurch erneut verschärfen.

Wer sich nicht impfen lässt, spaltet die Gesellschaft, nicht die Entscheidung für ein 2G-Modell. Dass wir in einer Demokratie leben, heißt auch, für das eigene Verhalten einzustehen und die Verantwortung für die Folgen zu übernehmen anstatt immer zu sagen: Ich liebe meine Freiheit. Das ist übrigens zutiefst christliches Menschenbild: Ich bin beauftragt, meine Freiheit verantwortlich zu leben. Und das verlangt immer den Blick auf den anderen. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter fragt: Wem bist du der Nächste? Es spricht von meinem Blick auf den anderen.

„Nichts ist einfacher, als die eigene Meinung bestätigt zu bekommen.“

Wolfgang Thierse im Gespräch mit PRO

In einer Basler Studie über die Querdenker heißt es, charakteristisch für diese neue Bewegung sei „eine starke Entfremdung von den Institutionen des politischen Systems und den etablierten Medien“. Tragen die Volksparteien eine Mitschuld an dieser Entfremdung?

Diejenigen, die da auf die Straße gehen, leben in einer anderen Welt. Für die ist die Pandemie eine Erfindung von Bill Gates und Co. Und das Internet dient dazu, diese verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung zu verfestigen. Aber das ist doch nicht die Schuld der Volksparteien. Die bemühen sich, differenzierte und streitbare Antworten zu geben.

Kein Abstand und kein Mund-Nasen-Schutz: In Berlin wurde am 25. Oktober eine Demonstration von „Querdenken“ aufgelöst, obwohl die Veranstalter spontan einen Gottesdienst ausgerufen hatten Foto: pro/Martin Schlorke
Demonstration der Gruppe „Querdenken“ in Berlin

Haben Politiker und auch Medien ihr Handeln, ihr Geschäft, vielleicht zu schlecht erklärt? Sodass der normale Bürger gar nicht mehr nachvollziehen kann, was da im Bundestag vor sich geht?

Natürlich haben Politiker die Pflicht und Bringschuld, ihre Entscheidungen zu erklären und auch in einer Sprache zu sprechen, die verständlich ist. Aber die Bürger haben ihrerseits die Holschuld, sich zu informieren, zuzuhören, wenn Politiker etwas sagen. Aber das geschieht immer seltener. Das sage ich auch aus persönlicher Erfahrung. Wenn ich auf Veranstaltungen bin, dann erlebe ich oft, dass mir eine Kaskade von Vorwürfen entgegengehalten wird. Und wenn ich mich bemühe, darauf zu antworten, dann hören die Leute schlicht nicht zu. Viele lesen keine Zeitung mehr, sie glauben nur ihrer Blase im Netz. Nichts ist einfacher, als die eigene Meinung bestätigt zu bekommen.

Und jetzt?

Manche sind wohl einfach nicht erreichbar. Trotzdem muss die Politik alle Möglichkeiten des Gesprächs suchen. Und noch mehr: Auch die Bürger müssen das tun. Das demokratische Gespräch untereinander, von Verwandten zu Verwandten, von Kollegen zu Kollegen, von Freund zu Freund, von Gemeindemitglied zu Gemeindemitglied ist wichtig. Zu fragen: Worüber bist du wütend? Was ärgert dich? Was ist deine Meinung dazu? Das ist die Verantwortung aller Demokraten in diesem Lande.

Sie haben in der DDR gelebt. Was sagen Sie Menschen, die heute von einer Corona-Diktatur sprechen?

Denen sage ich: Bemerken Sie, dass Sie öffentlich auf der Straße eine Corona-Diktatur beklagen können, ohne dass Sie verhaftet werden? Was soll denn das für eine Diktatur sein? Wer in der DDR öffentlich auf der Straße von einer SED-Diktatur gesprochen hätte, wäre festgenommen worden oder hätte seine Arbeitsstelle verloren. Weil ich hier mit einem christlichen Magazin spreche, möchte ich eines klar sagen: Ich wünsche mir von den Kirchen, dass sie Orte der Begegnung sind, wo diese Menschen die Chance haben, Wahrheit zu finden.

Die Kirchen sollten politisch sein?

Sie sollten zu verhindern versuchen, dass Menschen in Scheinwelten abtauchen. Der christliche Glaube ist immer auch eine Einweisung in die Wirklichkeit. Und die Kirche ist ein politischer Ort im besten Sinne: Politik heißt, immer neu den Versuch zu machen, gemeinschaftliche Angelegenheit gemeinsam zu regeln und darüber zu debattieren, damit ein gutes Zusammenleben gelingen kann. Kirchen sollten sich deshalb bemühen, Christenmenschen, Nachbarn, Freunde und Mitglieder zusammenzubringen und Streit zu moderieren.

„Die Kirche ist ein politischer Ort.“

Wolfgang Thierse im Gespräch mit PRO

Bei den Bundestagswahlen hat die AfD ausgerechnet im Osten Deutschlands überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Wie erklären Sie sich das?

Ich erkläre mir das durch die Veränderungsdramatik in unserer Gesellschaft. In Ostdeutschland trifft diese auf Menschen, die in den vergangenen 30 Jahren ohnehin bereits dramatische Veränderungen zu bestehen hatten. Nun kommt die aktuelle ökonomische, soziale und politische Transformation der Gesellschaft neu hinzu. Da sind die Unsicherheiten nochmals größer als im Westen. Deswegen ist in Ostdeutschland die Empfänglichkeit für einfache, radikale Botschaften größer.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung äußerten Sie im Februar die Sorge, Identitätspolitik führe zu einer Spaltung der Gesellschaft. Nur weil jemand zu einer Minderheit gehöre, habe er nicht automatisch Recht. Das sorgte für eine breite Debatte – und einen eingemachten Streit mit Ihrer Parteiführung. Was haben Sie aus dem Vorfall gelernt?

Wir müssen Ja zu Vielfalt sagen, aber eben auch neu lernen, das Gemeinsame und Verbindende zu pflegen. Das war mein Appell. Ich glaube, die Reaktionen auf meinen Text haben das bestätigt. Ich bestreite niemandes Recht, sich energisch für die eigenen Interessen einzusetzen. Aber wir dürfen Identitäten nicht verabsolutieren. Die sind ja nicht starr und ihre Merkmale immer relativ: Ich bin nicht nur ein alter weißer Mann, ich bin auch Christ, ich bin Fußballfan, ein Liebhaber der Künste und vieles mehr. Die Identitäts-Fixierungen und -Verabsolutierungen tendieren zu Radikalisierungen, die der Gemeinschaftlichkeit und dem friedfertigen Austausch nicht dienlich sind.

Herr Thierse, vielen Dank für das Gespräch!

Wolfgang Thierse war sieben Jahre lang Präsident und weitere acht Jahre Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Der Sozialdemokrat ist 1943 in Breslau im heutigen Polen geboren und studierte im Berlin der ehemaligen DDR Germanistik und Kulturwissenschaften. 1990 wurde er in den Deutschen Bundestag gewählt und Vizevorsitzender der SPD-Fraktion. 2013 schied er aus Altersgründen aus dem Parlament aus. Thierse war bis 2021 Mitglied des Zentralrats der deutschen Katholiken und ist Sprecher des Arbeitskreises Christen in der SPD.

Dieser Beitrag ist zuerst in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen.

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Eine Antwort

  1. Ich finde die Ausführungen sehr passend und mutmachend. Viele Menschen sollten sich diese Gedanken zu eigen machen und nachdenken.
    Authentisch erscheint mir diese Aussage und das findet man leider bei den heutigen Politikern nicht so oft.

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