Präsidentenwahl in Brasilien: Wer vereint die Evangelikalen hinter sich?

Am Sonntag sind etwa 156 Millionen Brasilianer aufgerufen, ihren neuen Präsidenten zu wählen. Erwartet wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Bolsonaro und Lula. Evangelikale spielen dabei eine entscheidende Rolle – und haben eine klare Präferenz.
Von Martin Schlorke
Der rechts-konservative Jair Bolsonaro ist seit Januar 2019 der Präsident Brasiliens und beliebt bei evangelikalen Christen

Im größten Land Südamerikas kommt es am Sonntag zum Showdown im Kampf ums Präsidentenamt. Amtsinhaber Jair Bolsonaro tritt gegen den früheren Präsidenten Lula da Silva an. In der ersten Wahlrunde vor vier Wochen konnte sich keiner der Kontrahenten durchsetzen. Nun kommt es also zur Stichwahl.

Aktuelle Umfragen sehen weiterhin den linken Lula, der bereits im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhielt, leicht vor Bolsonaro. Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Atlasetel vom Montag sieht den Herausforderer auf das Präsidentenamt bei 52 Prozent. Vor zwei Wochen lag er bei 51,1 Prozent. Bolsonaro würden demnach derzeit 46,2 Prozent der Befragten wählen. Auch im Vorfeld der ersten Wahlrunde vor vier Wochen sahen Umfragen Lula klar vor Bolsonaro. Das Ergebnis war am Wahltag jedoch deutlich knapper.

Entscheidend für den Wahlausgang dürften auch die Christen im südamerikanischen Land sein. In Brasilien gelten 50 Prozent der Bevölkerung als katholisch. Während die Katholische Kirche in Brasilien in den vergangenen Jahren aber einen starken Mitgliederschwund verkraften musste, wächst die Zahl evangelikaler Christen enorm. Mittlerweile machen sie 32 Prozent der Bevölkerung aus – Tendenz steigend.

Ungebrochene Unterstützung

Mit ursächlich für Bolsonaros Wahlsieg vor vier Jahren war, da sind sich viele Beobachter einig, die Unterstützung der Evangelikalen. Diese habe der 67-Jährige auch weiterhin, sagt der Journalist Niklas Franzen, der ein Kenner der Evangelikalen-Szene in Brasilien ist und aktuell aus Rio de Janeiro berichtet, gegenüber PRO.

Bolsonaro habe in den vergangenen Jahren „geliefert“, erklärt Franzen. Zwar habe er mit seiner Corona- oder Umweltpolitik für Unmut gesorgt und deswegen viele Kräfte der brasilianischen Gesellschaft gegen sich aufgebracht, aber die Evangelikalen stünden weiterhin treu an seiner Seite. Das liege beispielsweise an wertkonservativen Themen, die er besetzt hat.

Laut einer aktuellen Umfrage würden 68 Prozent der Evangelikalen für Bolsonaro stimmen. Bei den Katholiken liegt dieser Wert bei 41 Prozent.

Dennoch hätten sich auch Evangelikale vom ehemaligen Fallschirmjäger-Offizier abgewendet. Vor allem evangelikale, alleinerziehende schwarze Frauen, die aus den Peripherien sind. Sie seien von der schlechten wirtschaftlichen Situation in Brasilien besonders betroffen. Insgesamt habe sich aber am Gesamtbild der evangelikalen Unterstützung für Bolsonaro nicht viel geändert, sagt Franzen.

Falschmeldungen im Wahlkampf

Einen weiteren Grund für die ungebrochene Beleibtheit Bolsonaros in evangelikalen Kreisen sieht Franzen in auch von Kirchen verbreiteten Falschmeldungen zu Lula. So halte sich hartnäckig das Gerücht, dass Bolsonaros Herausforderer bei einem Wahlsieg Kirchen in Brasilien schließen wolle. Diese Falschmeldung zog so große Kreise, dass Lula sich persönlich zu den Vorwürfen äußerte und betonte, er sei persönlich auch gegen Abtreibung, gegen Unisex-Toiletten an Schulen und zudem gläubiger Christ.

Neben solchen Falschmeldungen werde gerade in evangelikalen Gottesdiensten häufig ein Endkampf gegen den Kommunismus stilisiert, erklärt Franzen. Die Befürchtung vieler sei, dass mit einem Wahlsieg Lulas in Brasilien nicht nur Kirchen schließen müssen, sondern das Land kommunistisch und die traditionelle Familie abgeschafft wird.

Die katholische Kirche dagegen hat sich am 11. Oktober erneut gegen eine Instrumentalisierung der Religion ausgesprochen. Von Seiten der brasilianischen Bischofskonferenz heißt es: „Religiöse Anlässe dürfen von Kandidaten nicht genutzt werden, damit sie ihre Vorschläge präsentieren.“

Auch Linke bemühen sich um evangelikale Christen

Die Macht, die da von evangelikalen Pastoren ausgehe, sei bereits bei der vorherigen Wahl 2018 zu beobachten gewesen, sagt Franzen. Damals habe jeder fünfte Brasilianer aufgrund einer Empfehlung seines Pastors seine Stimme abgegeben. Auch in diesem Wahlkampf sei zu beobachten gewesen, wie evangelikale Kirchenobere sich offen für Bolsonaro ausgesprochen haben.

Linke Parteien in Brasilien haben sich lange zu wenig um evangelikale Christen gekümmert. Im Wahlkampf bemüht sich daher nun auch Lula um deren Stimmen. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) berichtet von einem Treffen zwischen Lula und Vertretern evangelikaler Kirchen in São Paulo. In einer Verpflichtungserklärung versicherte der 77-Jährige erneut, im Falle eines Wahlsieges die Religionsfreiheit zu achten.

Niklas Franzen, Jahrgang 1988, lebt in Berlin und São Paulo. Seit vielen Jahren berichtet er aus und über Brasilien. Im Mai 2022 erschien sein Buch „Brasilien über alles – Bolsonaro und die rechte Revolte“ bei Assoziation A.

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2 Antworten

  1. „Mit ursächlich für Bolsonaros Wahlsieg vor vier Jahren war, da sind sich viele Beobachter einig, die Unterstützung der Evangelikalen.“ Kein Ruhmesblatt für die Evangelikalen. Bolsonaro ist genau so eine zwielichtige Figur wie Trump in den USA. Zwei „von einem Schlag“..

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  2. Ich denke, es ist missverständlich im Zusammenhang der brasilianischen Religionslandschaft ohne nähere Erklärung von „Evangelikalen“ zu sprechen. Die brasilianischen Kirchentümer sind sehr divers, hoch dynamisch und diejenigen, die als „evangelikal“ klassifiziert werden, sind meist neopentecostal, wobei auch die Pfingstkirchen in Brasilien sehr unterschiedlich sind.
    Diese Strömungen zeichen sich dadurch aus, dass sie fast vollständig ohne jede theologische Bildung auskommen, sehr stark auf psychodynamische Momente setzen und sich in einem durch enorme Konkurrenzkonstellationen geprägten „Religionsmarkt“ behaupten müssen.
    Also mit dem betulichen Konservativismus der kirchlich organisierten Evangelikalen oder der Bunkermentalität fundamentalistischer Konventikel – die sich ja ebenfalls das Label „evangelikal“ anheften – in Deutschland ist das überhaupt nicht vergleichbar.
    Trotzdem ist es beängstigend zu sehen, wie wenig offensichtlich der christliche Glaube immunisiert gegen eine massive faschistische Bedrohung! Das müssen wir leider beobachten in Russland, in Polen, in den USA, in Brasilien und es soll ja auch „Christen in der AfD“ geben!
    Um so dringlicher ist christliche Bildungsarbeit, das war einmal ein Markenzeichen des Protestantismus!

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