Meinung

Oscar-Preisträger: Kammerspiel zum Kern des christlichen Glaubens

„Die Aussprache“ über eine Mennonitengemeinde hat in der Nacht auf Montag den Oskar für das beste adaptierte Drehbuch gewonnen. Der Streifen setzt sich eindrucksvoll mit Kernfragen des christlichen Glaubens auseinander. Absolut sehenswert.
Von Jörn Schumacher

Im viel gelobten Film „Die Aussprache“ geht es um Vergewaltigungsfälle in einer Mennoniten-Gemeinde in Südamerika. Eine Gruppe von Männern hat regelmäßig nachts die Frauen mit Tier-Betäubungsmitteln narkotisiert und dann vergewaltigt. Nun muss eine kleine Gruppe der Frauen entscheiden, wie sie verfahren wollen: In der Gemeinschaft bleiben und gegen die Unterdrückung durch die Männer kämpfen oder die Kolonie verlassen. Gar nichts zu tun, schließen die Frauen früh aus.

Das Kammerspiel, nur selten durchbrochen von kurzen Erinnerungen an die scheußlichen Taten der Männer, spielt vor allem auf einem Heuboden, wo die Frauen und Mädchen sich beratschlagen. Beeindruckend ist die Leistung der Schauspielerinnen: Neben der vierfachen Oscarpreisträgerin Frances McDormand („Fargo: Blutiger Schnee“), die „Die Aussprache“ auch mit produziert hat, sind unter anderem zu sehen: Mara Rooney, bekannt aus „Verblendung“ und „Maria Magdalena“, sowie Claire Foy, die junge Queen Elizabeth aus „The Crown“.

Die Art und Weise, wie Kernfragen des christlichen Glaubens hier behandelt werden, lässt Gänsehaut aufkommen. So tiefgründig wurden in einem Spielfilm lange nicht mehr theologische Fragen, etwa nach Verpflichtung und Schuld eines Christenmenschen besprochen. Denn diese Frauen sind nicht nur Teil einer strengen christlichen Kommunität mit patriarchalischen Strukturen, in der Frauen wenig Wert haben. Sie sind von einem tiefen persönlichen Glauben geprägt, und trotz der schlechten Behandlung durch die Männer haben sie sich eine unerschütterliche Liebe zu Jesus bewahrt. Umso schwieriger ist der Konflikt, den sie mit sich und ihrem Glauben austragen müssen. Machen sie sich schuldig, wenn sie die Männer allein lassen? Vor allem aber: Wie funktioniert Vergebung, wenn man so verletzt wurde und die Peiniger nicht einmal um Vergebung bitten? Kommen sie in die Hölle, wenn sie sich gegen ihre Männer zur Wehr setzen, womöglich mit Gewalt?

Bibelstellen und Kirchenlieder zeugen von der Liebe Gottes

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Miriam Toews aus dem Jahr 2018. Die Geschichte wurde inspiriert von realen Begebenheiten in einer mennonitischen Kolonie in Bolivien. Dort hatten zwischen 2005 und 2009 Männer über 100 Mädchen und Frauen regelmäßig nachts zuerst narkotisiert und dann vergewaltigt. Das jüngste Opfer war drei Jahre alt. Die sichtbaren Wunden der Frauen sollten damals erklärt werden mit „wilder weiblicher Fantasie“ oder als „Akt des Teufels“. Acht Männer wurden 2011 angeklagt, sieben von ihnen wurden zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt.

Der Film „Die Aussprache“, der seit dem 9. Februar auch in den deutschen Kinos zu sehen ist, wurde bei den Academy-Awards 2023 als bester Film und für das beste Drehbuch nominiert. Die Verleihung der Oscars findet am 12. März 2023 statt. Die kanadische Regisseurin Sarah Polley stand bereits selbst als Kind vor der Kamera. Sie entwickelte etwa die erfolgreiche Netflix-Serie „Alias Grace“ über ein 15-jähriges Dienstmädchen im Jahr 1843. Im Gespräch mit n-tv sagte Polley, sie habe in ihrem neuen Film die Frauen der Geschichte ehren wollen, aber auch deren Glauben. So habe sie es bewusst vermieden, zu betonen, dass es Mennoniten sind.

Böses mit Bösem bekämpfen?

Die Meinungen darüber, was zu tun ist, gehen unter den Frauen weit auseinander. Wenn fromm sein bedeutet, Menschen immer alles vergeben zu müssen, dann stellt sich die Frage: Muss man auch Vergewaltigern vergeben – selbst dann, wenn sie selbst gar nicht darum bitten? „Manchmal wird Vergebung verwechselt mit Zustimmung“, stellt eine der Frauen fest. Vergebung heißt eben nicht, zu Unrecht zu schweigen, erkennen die Frauen in der gemeinsamen Diskussion. Die Vergewaltigungen um des frommen Friedens willen einfach zu ignorieren, kommt daher für keine von ihnen infrage.

So wollen sich wehren, zur Not auch mit Waffen. Aber darf man Böses bekämpfen mit bösen Taten? Und schon ist man mitten in der auch aktuell brisanten Frage, ob man sich mittels Gewalt gegen andere Gewalt wehren darf oder ob das alles nur verschlimmert – etwa in einem Angriffskrieg wie den Russlands gegen die Ukraine. Vielleicht ist es die Motivation, die dahinter steht, die den Unterschied macht. Dient die Gewalt dem Guten, oder entspringt sie dem Hass? „Was ist gerecht?“, stellen die Frauen schließlich eine der tiefsten theologischen Fragen, und sie legen für sich fest: Ihr Glaube soll der Maßstab sein, und der kann nur auf Friedfertigkeit basieren; daher ist Gewalt zwar vielleicht notwendig, aber eben nicht aus Rachegelüsten anzuwenden, sondern um sich und die Kinder zu schützen.

Und so zeigt dieser schlichte und doch so eindrucksvolle Film: Vergebung muss aus einer Haltung der Liebe kommen, nicht aus Zwang, sonst ist sie nur ein stilles Einverständnis. Der zentrale Satz wird von der nach einem gewaltsamen Übergriff schwangeren Ona (Rooney Mara) ausgesprochen, und das gleich an zwei verschiedenen Stellen: „Wir können nicht vergeben, weil wir dazu gezwungen werden!“ Das ist der Kern des Glaubens: Aufgezwungene Vergebung – vielleicht aus falsch verstandener Frömmigkeit – ohne Liebe ist aus einer Angst heraus geboren.

Dieser Glaube kommt im Film immer wieder in Form von Bibelzitaten und Textzeilen aus den Liedern zur Geltung, die Gott als Trostspender und barmherzigen Vater loben. Wer aber nur religiöse Gesetze einhält, wie die der strengen mennonitischen Gemeinschaft, ist nicht frei, sondern unterdrückt. Und Unfreiheit ist genau das Gegenteil von dem, was Gott für die Menschen will.

Der vielleicht beste Film des Jahres

Den Frauen kommt dann auch irgendwann ein Verdacht: Sind ihre Männer vielleicht selbst nur Opfer dieser Gemeinschaft, die religiöse Regeln dazu missbraucht, Frauen als minderwertig zu behandeln? Auch dass selbstständiges Denken keineswegs schädlich für eigenen Glauben ist, lernen die Frauen in ihrer „Aussprache“.  Der Dorflehrer August (Ben Wishaw) ist der einzige Mann, den die Frauen in ihrer Runde als Protokollanten dulden. Er und seine Mutter waren aus der Kolonie verbannt worden, weil sie die Gemeinde hinterfragt hatten. „Aber nicht Gott haben wir hinterfragt“, betont August, der selbst sehr gläubig ist. „Sondern Macht. Und die Regeln, die im Namen Gottes aufgestellt wurden.“

Ona lernt von August für die bevorstehende Reise weg von den Männern einen Trick für das Navigieren am Sternenhimmel. Wissen ist nichts Schlechtes, und selbstständiges Denken verträgt sich mit dem Glauben, staunt sie; eine Botschaft, die in dieser christlichen Gemeinschaft wie ein Blitz einschlägt, oder besser: wie das Licht der Aufklärung. „Wir haben das Recht auf drei Dinge“, proklamiert eine der Frauen am Ende des Films. „Erstens: Sicherheit für unsere Kinder, zweitens: unseren Glauben und drittens: Denken.“ Aus christlicher Sicht ist „Die Aussprache“ der vielleicht beste Film des Jahres.

„Die Aussprache“, Regie: Sarah Polley, 104 Minuten, FSK: ab 12 Jahren, seit 9. Februar 2023 im Kino

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2 Antworten

  1. Ich bin ja fassungslos über Vergewaltigung in mennonitischen Kreisen. Wer hätte das gedacht, bei diesen Strenggläubigen? Manchmal denke ich: Je strenger die Erziehung, umso skandalöser die Ausfälligkeiten. Es braucht eine viel ausgeglichenere, entspanntere Sexualmoral, vernünftige Sexualerziehung, natürlicheren Umgang mit dem anderen Geschlecht, dann hören diese Auswüchse auf.

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  2. Es scheint wirklich ein guter Film zu sein. Betroffen macht mich, dass dem Film reale Begebenheiten zu grunde liegen. Andererseits natürlich nicht, wenn man bedenkt, dass die wenigsten Menschen Erfüllung in Gott finden. Das zeigt sich auch in meinem Beitrag, in dem ich etwas zu einer entsprechenden Statistik sage: https://manfredreichelt.wordpress.com/2015/06/28/die-abweichung-vom-ursprung/ Leider haben die meisten Christen eine gesetzliche Frömmigkeit, weil sie nichts Besseres kennengelernt haben. Viele Christen halten sich ja für besonders christlich, weil sie nur die Bibel gelten lassen wollen. Eine besonders extreme Engführung eines solchen Glaubens leben ja die Mennoniten seit Jahrhunderten. Es zeigt sich eben, dass Enge nicht wirklich zur Vertiefung des Glaubens und zur Überwindung der „fleischliche Lüste“ beiträgt. Das sollte allen denen zu denken geben, deren Gläubigkeit auf ein solches Modell ausgerichtet ist.

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