„Müssen uns als Demokraten uneinig sein“

Die Pandemie und der politische Umgang damit ist seit Monaten das beherrschende Thema. Der Historiker Paul Nolte plädiert dafür, sich auch wieder anderen Dingen zu widmen. Eine Vielfalt an Themen sei wichtig für eine freie Gesellschaft.
Von Johannes Blöcher-Weil
Der Historiker Paul Nolte

Neben Corona findet kaum noch etwas anderes in der Gesellschaft statt. Dies bemängelt der Berliner Historiker Paul Nolte. Mit Blick auf die täglichen Nachrichten könne man geradezu von einer „Totalisierung der Wahrnehmung auf die Pandemie“ sprechen, sgte er in einem Interview von Focus Online. Für eine freie Gesellschaft sei es nicht gut, „wenn sie sich so obsessiv einem einzigen Thema widmet“.

Vergleichbare Totalisierungen gebe es sonst nur in Kriegssituationen. Die Freiheit lebe aber von der Vielstimmigkeit und davon, „dass verschiedene Menschen sich für unterschiedliche Dinge interessieren“. Zugleich beklagt Nolte eine Fixierung auf medial verkündete Ziffern, aus denen unmittelbar Politik gemacht werde. „Diese Obsession mit den Zahlen, das ist besorgniserregend.“ Nicht jede Zahl lasse sich in Politik übersetzen: „Medienmündigkeit ist wichtig, und ebenso qualitativ orientierte Politik statt Politik nach der Zahl.“

„Extreme Parteien haben nicht profitiert“

Ihm habe das Jahr der Corona-Pandemie gezeigt, dass man offenbar einer freien Gesellschaft mehr zumuten könne, „als ich das selbst vor einem Jahr geglaubt habe“. Zwar seien Grundrechte eingeschränkt, aber später auch wieder zurückgefordert worden: „Die Gerichte kontrollieren und ziehen Grenzen.“ Extreme Einstellungen und radikale Parteien hätten in Deutschland nicht von der Krise profitiert. Während Corona in anderen europäischen Ländern und der USA Risse zwischen einem populistischen Lager und einem im weitesten Sinne liberalen Lager verstärkt habe, sei es in Deutschland zu einem stärkeren Zusammenhalt und einem Sammeln in der Mitte gekommen.

Kritisch sieht der Berliner Wissenschaftler, dass die Erwartungen an Normalität bereits schrumpfen würden: „Das ist ein Alarmzeichen.“ Normalität wie etwa persönliche Begegnungen an Universitäten, das kulturelle Leben oder die Aktivitäten im Vereinssport sei noch längst nicht wieder hergestellt.

Politisches Handeln als Übersetzungsleistung

Der Historiker wirbt dafür, neben Medizinern und Virologen in der Krise auch anderen Wissenschaftlern zuzuhören. Auch Psychologen und Soziologen könnten ihr spezifisches Wissen in die Debatte einbringen. Politisches Handeln sei dann eine Übersetzung dieses Wissens und eine Abwägungsleistung. Experten könnten immer nur Hilfestellungen liefern.

In der Pandemie gehe es darum, „widerstreitende Interessen von Gruppen“ ebenso wie die „Freiheitsspielräume für Individuen“ im Blick zu behalten. Einem „solidarischen Konformismus“ sieht er für eine freie Gesellschaft kritisch. Daher sei es wichtig, sich nicht von Verschwörungstheoretikern in die Enge treiben zu lassen: „Nach dem Motto: Dagegen müssen wir zusammenstehen und einig sein. Nein, wir müssen uns als Demokraten uneinig sein.“ Nolte sieht den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland nicht bedroht: „Damit das so bleibt, müssen wir unterschiedlicher Meinung sein und streiten.“

Nolte ist Präsident der Evangelischen Akademie in Berlin. Wie vorige Woche bekannt wurde, scheidet er Ende Juni nach zwölf Jahren aus seinem Amt aus.

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