„Hier spielen sich große Dramen ab“

Der Flughafen in Frankfurt am Main gilt als Drehkreuz Europas. Hier, wo vieles im Fluss scheint und die Menschen gefühlt nur auf dem Sprung sind, ist Flughafen-Seelsorgerin Bettina Klünemann eine große Konstante.
Von Johannes Blöcher-Weil
Flughafenseelsorgerin Bettina Klünemann

Bettina Klünemann streift ihre leuchtend gelbe Weste über. Gemeinsam mit den Ehrenamtlichen Klaus Mittorp und Anke Scheer macht sich die Flughafen-Seelsorgerin auf den Weg durch die Gänge und Terminals des Airports Frankfurt. Die drei wollen schauen, was die Menschen bewegt, wer Hilfe braucht und ob jemand ein seelsorgerisches Gespräch wünscht. Die Aufschrift auf den gelben Westen macht sie als Mitarbeiter der Flughafenseelsorge erkennbar. Im März 2022 wird es die Flughafenseelsorge seit 50 Jahren geben. „Eigentlich könnte man denken, dass jeder etwas mit uns und dem Begriff anfangen kann“, erklärt die Theologin. Im täglichen Ablauf wird sie aber eines Besseren belehrt.

Die gelben Westen sind Türöffner im doppelten Sinn: für Gespräche und für Bereiche, in die nicht jeder Reisende kommt. Die drei verlassen die Büroräume der Flughafenseelsorge in der Abflughalle B des Terminals 1. Hier gab es vorher eine kurze Lagebesprechung mit den Ehrenamtlichen, in der Klünemann erklärt, welche Vorkommnisse ihr mitgeteilt wurden und wo ihre Hilfe nötig ist. Heute ist es ruhig am Flughafen. Passagiere ziehen ihre Rollkoffer über den glatten Boden. Aus den Lautsprechern hallen vereinzelt Durchsagen über die Gänge. Ohne Pandemie reisen hier jährlich bis zu 60 Millionen Menschen. Das ist ein gewaltiges Pensum für die 57-jährige Pfarrerin. Die Frau mit den braunen Haaren und der Hornbrille hat ein Netzwerk von zehn Ehrenamtlichen, die sie bei ihrer Arbeit unterstützen.

Am Flughafen in Frankfurt reisen außerhalb der Pandemie jährlich über 60 Millionen Menschen.

Zuhören und Barrieren abbauen

Klünemann hat nach ihrer Ordination als Pfarrerin einige Jahre in den USA gelebt. Die Zeit hat ihren Horizont geweitet, was das Zusammenleben von Religionen und Kirchen betrifft. Das hilft ihr bei ihrer Arbeit am Flughafen. Denn eine so große Vielfalt von Menschen auf begrenztem Raum gibt es an wenigen anderen Orten. In Deutschland war sie zuletzt Pfarrerin an der Mainzer Christuskirche, dem „evangelischen Dom“ der rheinland-pfälzischen Hauptstadt. Als die Stelle am Flughafen ausgeschrieben war, hat sich die damals stellvertretende Dekanin beworben. Vergleichbar sind die Aufgaben kaum: „Die Arbeit hier ist noch ein bisschen vielfältiger und ich bin noch unmittelbarer an den Menschen dran“, meint sie.

Vorgaben für ihre Arbeit bekommt sie von ihrem Dienstherrn, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, keine. Die Landeskirche finanziert ihre Stelle, zwei „halbe“ Verwaltungskräfte und die Räume. Der Rundgang zeigt, wie wenig planbar ihr Arbeitstag ist. Sie trifft auf gestresste, einsame und entspannte Menschen. Klünemann muss flexibel sein und bleiben. Oft geht es darum, nur zuzuhören. Ein anderes Mal hilft sie dabei, sprachliche und technische Barrieren zu überwinden. Sie füllt Anträge aus oder hilft Menschen mit einem WLAN-Zugang aus. Wenn ein seelsorgerliches Gespräch nötig ist, zieht sie sich in die kleinen Kapellenräume zurück.

Gerade gestern begann ihr Arbeitstag, schon bevor sie im Büro ankam. Eine ältere Frau war auf der Rolltreppe gestürzt. Die Seelsorgerin hat sich um die Frau gekümmert und Hilfe organisiert: „Die Menschen öffnen sich, wenn wir ihnen praktisch helfen.“ Heute absolviert das Trio auf seinem Rundgang die Sicherheitskontrolle für den Transitbereich. Dort bringen die drei zunächst Decken und Hygieneartikel ins „Medical Clearing“, das sie um Hilfe gebeten hatte. Hier können Reisende auch Corona-Tests machen, falls ihre Testergebnisse abgelaufen sind und keine Weiter­reise möglich ist. Manchmal hängen Reisende wochenlang im Transitbereich fest. Nicht immer haben alle die 253 Euro dabei, um den Test zu bezahlen. Das macht die Situation für alle Beteiligten nicht leichter. Ein kurzer Plausch mit dem Personal und weiter gehts.

Pfarrerin mit Fahrerin verwechselt

Bei ihrem Rundgang ist jede Sprache von Vorteil, die Klünemanns Team oder Menschen aus ihrem Netzwerk sprechen können. Ein Reisender möchte schnell den richtigen Weg zu seinem Abflugort wissen. Dann helfen sie einem älteren Ehepaar, das seinen Flug auf die Philippinen verpasst hat und jetzt Unterstützung bei der Kofferrückgabe braucht: „Ich bin bewusst und gerne hier, um an diesem Ort Kirche zu sein und die Botschaft des Evangeliums zu leben“, sagt Klünemann.

Einmal musste sie jemandem erklären, dass sie als Pfarrerin nicht dafür zuständig sei, Menschen zu fahren. „Fahrerin“ klingt in den Ohren mancher eben ähnlich. Auf dem Rückweg des Rundgangs entsteht aus Klünemanns Zuruf „Hallo! Schön, dass der Infostand hier endlich wieder besetzt ist!“ ein kurzes Gespräch mit einer Mitarbeiterin. Die Theologin lässt ihre Visitenkarte zurück, falls es Redebedarf gibt oder sie für jemanden beten soll. Das ist beim heutigen Rundgang nicht der Fall.

In kleinen, schalldichten Räumen können die Reisenden zur Ruhe kommen und in der Bibel lesen.

Die Pfarrerin muss oft entscheiden, wo sie gerade am dringendsten gebraucht wird, um dann mit den Menschen eine Lösung zu suchen: „Wir Deutschen sind ja schon sehr unterschiedlich. Wenn jetzt auch noch unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, fordert das heraus“, erzählt sie. Auch die Weihnachtsfeiertage seien für viele Flughafen-Mitarbeiter eine emotionale Herausforderung gewesen, weil sie an den Tagen arbeiten mussten und nicht bei ihrer Familie sein konnten.

Leute werden bespuckt und attackiert

Die Pandemie hat die Arbeit am Flughafen massiv verändert. Wer seinen Job behalten konnte, war häufig in Kurzarbeit oder musste in völlig neuen Teams arbeiten: „Viele haben ihre Kollegen kaum noch gesehen“, erzählt Klünemann. Das mache etwas mit den Menschen. In solchen Ausnahmesituationen lägen auch oft die Nerven bei Reisenden blank: „Hier spielen sich Dramen ab. Mitarbeiter werden angespuckt, attackiert und angeschrien. Das zehrt an den Nerven.“

Da braucht es Einfühlungsvermögen – und das hat Klünemann, die auch Diplom-Psychologin ist. 60-Stunden-Wochen sind für sie keine Seltenheit. Über ihre dienstliche Telefonnummer wäre sie im Notfall rund um die Uhr erreichbar. Gestern hat sie wieder eine Spätschicht eingelegt. Eine Mutter und ihre Tochter sind auf dem Flug von England zurück nach Kanada in Frankfurt gestrandet. Die Familienverhältnisse sind verworren, die Visum-Situation unklar. Klünemann telefoniert viel und kümmert sich um pragmatische Lösungen. In dem Fall ist keine schnelle Lösung in Sicht.

Klünemann könnte Bücher schreiben über ihre Erlebnisse. Einigen Chinesen zauberte sie ein Lächeln ins Gesicht, als sie ihnen nach mehreren Wochen eintönigen Ausharrens im Transitbereich eine Portion Reis brachte. Einem Israeli, der seine schwerkranke Schwester in den USA besuchen wollte, konnte sie nicht helfen. Die bürokratischen Hürden waren zu hoch. Er brach seine Weiterreise entnervt ab. Auch wenn Angehörige ältere Menschen mit Demenz im Flugzeug quer durch Europa schickten, sei sie sprachlos.

Die Erlebnisse und Begebenheiten werden in Stichworten anonymisiert dokumentiert. Neben der persönlichen Hilfeleistung, die ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit ist, tauft und traut sie auch Menschen oder führt Trauerfeiern durch. Sie finden dann in der kleinen Kapelle in der Nähe der Büroräume statt. Diese teilen sich die evangelischen Seelsorger mit den katholischen Kollegen. Regelmäßig lädt die Theologin zu geistlichen Impulsen, Gottesdiensten und Konzerten ein, die sehr beliebt sind. Hier kommen auch Mitarbeiter und Reisende vorbei, um durchzuatmen und die Ruhe zu genießen.

Ein Geben und Nehmen

Klünemann hat sich über die Jahre ihre Netzwerke aufgebaut, auch wenn vieles an so einem großen Flughafen im Fluss ist. In der diakonischen Arbeit wird sie von der Flüchtlingsseelsorge, der aufsuchenden Sozialarbeit und dem Kirchlichen Sozialdienst (KSD) unterstützt. Vor der Pandemie bekam sie Besuch von Kindergartenkindern, Konfirmanden und Seniorenkreisen. Alle wollten wissen, was Kirche am Flughafen so macht. Auch Fernsehbeiträge im Hessischen Rundfunk haben ihre Arbeit bekannt gemacht: „Eines Tages stand ein Junge vor mir und hat seine Spielsachen gespendet“, erzählt die Pfarrerin sichtlich gerührt.

Gänsehaut bekommt sie, wenn sie an eine Mutter aus Taiwan denkt. Sie musste die Urne ihres Sohnes, der bei einem Schüleraustausch ertrunken war, quer durch die Abflughalle tragen. Aber es gibt auch die Geschichte von Cecilia, die ursprünglich aus häuslicher Gewalt geflohen war und bei der Flughafenseelsorge Hilfe suchte und fand. Im Gegenzug hat die Frau ihr ein Stück Stoff aus ihrem Heimatland geschenkt. Eine Kleinigkeit, die Klünemann enorm viel bedeutet.

„Meine Arbeit ist nie eine Einbahnstraße, sondern immer ein Geben und Nehmen. Ich bekomme viel geschenkt – über Länder- und Konfessionsgrenzen hinweg.“ An Weihnachten und Neujahr haben sie viele Grüße und gute Wünsche aus der ganzen Welt erreicht: „Die Menschen vergessen einen nicht.“ Für die Pfarrerin ist es deswegen eine Illusion, in einer so vernetzten Welt Grenzen zu schließen und Mauern aufzubauen. Dafür hat sie zu viel erlebt: „Corona hat das Ganze noch einmal potenziert.“ Auch dafür ist es gut, dass es am Drehkreuz Europas eine Anlaufstelle für die wichtigen Lebensfragen gibt.

Dieser Text ist zuerst in der Ausgabe 1/2022 im Christlichen Medienmagazin PRO erschienen. Das Magazin können Sie kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41/5 66 77 00.

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