„Gemeinden müssen nach Corona intensiv in nächste Generation investieren“

Viele Jugendliche leben coronabedingt in einer digitalen Parallelwelt. Die Theologin Judith Hildebrandt sieht daher Herausforderungen für die christliche Kinder- und Jugendarbeit nach der Pandemie. Chancen bieten sich, wenn Gemeinden auf die geänderten Bedingungen reagieren.
Von Norbert Schäfer
Judith Hildebrandt


PRO: Sie forschen über Kinder- und Jugendarbeit in Gemeinden. Was hat die Pandemie, was hat der Lockdown in dem Bereich bewirkt?

Judith Hildebrandt: Durch den Lockdown sind viele Gruppenstunden, Sommerlager, Freizeiten und Großveranstaltungen für Kinder und Jugendliche ausgefallen. Seit über einem Jahr können keine klassischen Kinder- und Jugendveranstaltungen, Worshipgottesdienste und anderes stattfinden. Wir wissen jetzt schon, dass zum Beispiel viele Jungscharen den Lockdown nicht überlebt haben. Dies bedeutet, dass Kindern und Jugendlichen wichtige glaubensfördernde Momente genommen wurden.

Außerdem zeigen Studien, dass die Generation, die mit dem Smartphone in der Hosentasche aufgewachsen ist, im Lockdown noch mehr Zeit mit digitalen Medien verbracht hat. Die Generation Z ist also noch mehr im Internet unterwegs, das Leben noch mehr ins Netz verlagert. Wer daheim Kinder hat, kann das leicht sehen. Schule, Freundschaften, Cliquen – alles hat sich ins Netz verlagert und findet jetzt in Form von Zoom-Meetings, WhatsApp-Gruppen und Instagram-Videos statt. Zum realen Leben hat sich eine digitale Parallelwelt aufgebaut. Auch Gemeinden haben ihre Gottesdienste online angeboten. Damit überhaupt Kinder erreicht werden konnten, musste auch die Kinder- und Jugendarbeit ins Internet verlagert werden. Die klassischen Formen von Kinder- und Jugendarbeit haben vielerorts einen Zusammenbruch erlebt. Neue, digitale Angebote können aber die echte Begegnung nicht wirklich ersetzen. Auch hat sich bei Jugendlichen mittlerweile eine „Online-Müdigkeit“ eingeschlichen, sodass wir feststellen müssen: Der Lockdown hat eine Krise der Kinder- und Jugendarbeit bewirkt.

WhatsApp, YouTube, Instagram und Co. ….

… servieren vor allem digitale Häppchen. Die Art und Weise der Wissensaufnahme und damit auch die Verarbeitung und Rezeption von Texten hat sich durch die digitalen Medien bereits verändert. Das muss man wissen. Für Kinder- und Jugendarbeit in christlichen Gemeinden, beim christlichen Glauben überhaupt, der sich ja vor allem aus Texten speist, müssen wir davon ausgehen, dass er schwerer zu vermitteln sein wird. Die Jugendlichen sind immer weniger darauf trainiert, längere – oder kompliziertere – Texte zu lesen und dann zu verarbeiten. Sie sind darauf getrimmt, Texte schnell zu überfliegen, ohne dabei in die Tiefe zu gehen und zu wissen, wo man welche Informationen schnell findet. In den digitalen Medien ist der Grad der Ablenkung und die Geschwindigkeit der Szenenwechsel enorm hoch. Es dauert einen Bruchteil einer Sekunde, einen kurzen Wisch über das Display des Smartphones. Auf diese Veränderungen müssen sich Gemeinden in ihrer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in Zukunft einstellen.

Kann der Glaube Jugendlichen helfen, die Pandemie zu meistern?

Wir wissen aus einer Studie von Hurrelmann und Schnetzer: Die stark gläubigen Jugendlichen gehen unbeschadeter, weil optimistischer und entspannter durch die Krise. Also ja, der Glaube hilft bei der Bewältigung von Krisensituationen, auch im Lockdown der Pandemie. Religion bietet also Möglichkeiten, gelassener mit der momentanen Krise umzugehen. Wir können also sagen, dass ein starker Glaube in Zeiten einer Krise resilienzfördernd wirkt. Gerade die Bibel liefert gute Hilfestellungen, um in schweren Zeiten trotzdem Gott zu vertrauen.

Was können Gemeinden aus Corona für die Zukunft der Kinder- und Jugendarbeit lernen?

Dass sich die Zeiten geändert haben. Kinder und Jugendliche finden nicht automatisch zum Glauben oder ihren Platz in der Gemeinde – schon gar nicht in einem säkularen Umfeld unter den Bedingungen einer Pandemie. Der Lockdown hat gezeigt: Nur wo persönliche Beziehungen und Identifikation besteht, nehmen Kinder und Jugendliche weiterhin an Angeboten teil. Gemeinden sind herausgefordert, intensiv in die nächste Generation zu investieren. Der Lockdown ist also auch eine Chance für Gemeinden, neue Wege zu gehen und sich ganz neu mit der Frage zu beschäftigen, wie Kinder- und Jugendarbeit in der heutigen Zeit gelingen kann.

Wie kann Kinder- und Jugendarbeit in Extremsituationen – wie jetzt in der Pandemie – weiterhin gelingen?

Indem man Abstand nimmt von einem programmorientierten Ansatz, hin zu einem evangeliumszentrierten Ansatz. Mitarbeiter müssen begreifen, dass es nicht in erster Linie darum geht, eine schöne Gruppenstunde zu gestalten, sondern darum, Kindern und Jugendlichen das Evangelium zu verkünden. Und keine äußeren Umstände – auch keine Pandemie – sollte das verhindern. Dazu braucht es Mitarbeiter, die selbst im Glauben gefestigt sind und Christus als Lebensmittelpunkt haben. Es braucht Mitarbeiter, die die inneren Ressourcen besitzen, sich auch im Lockdown durch verschiedene, auch digitale Medien mit „ihren“ Kindern und Jugendlichen zu vernetzen, sie im Glauben zu fördern und wertschätzende tragende Gemeinschaft zu initiieren.

Außerdem scheint mir ein neuer Fokus auf Familien wichtig. Schon seit einigen Jahren gewinnt die Familie für Jugendliche immer mehr Bedeutung – auch bis in das junge Erwachsenenalter hinein. Durch den Lockdown wurde diese Entwicklung noch einmal verstärkt. In Zukunft scheint es wichtig, Eltern zu helfen, ihre geistliche Verantwortung für ihre Kinder gut wahrzunehmen.

Haben sich die Corona-Maßnahmen auf die Psyche der Kinder ausgewirkt?

Ja, und zwar sehr deutlich. Mittlerweile gibt es viele Studien, welche die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während des Lockdowns im Blick haben. Auch wenn viele Kinder es toll fanden, mit der Familie – besonders mit den Vätern – viel Zeit zu verbringen, so ist der Anstieg der psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen doch enorm. Zum einen haben die psychisch ernsthaften Erkrankungen zugenommen, aber es gibt auch einen ganz allgemeinen Anstieg der psychischen Auffälligkeiten, der erst im Laufe des Lockdowns immer mehr deutlich wurde: Eine Studie geht davon aus, dass vor der Pandemie bei jedem fünften Kind psychische Auffälligkeiten zu erkennen waren. Heute geht man davon aus, dass das bei einem Drittel der Kinder der Fall ist.

Insgesamt leiden fast alle der Kinder unter mangelndem Kontakt zu Freunden, zwei Drittel finden Homeschooling zunehmend schwierig und ein Drittel aller Kinder leiden an zunehmenden Streitigkeiten in der Familie. Besonders hart trifft der Lockdown Kinder aus prekären Familien. Die Hälfte von ihnen fühlen sich einsam. Insgesamt ist zu sagen: Der Lockdown macht aus einer psychisch gefährdeten Generation eine noch stärker gefährdete Generation. Der Mensch ist ein soziales Wesen und darauf angelegt, Kontakte zu anderen Menschen zu haben. Fehlen ihm die – etwa wie jetzt im Lockdown – droht er krank zu werden. Da wird es für die Zeit nach der Pandemie viel Arbeit geben für Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendarbeit und viel Nachholbedarf bei den Kindern und Jugendlichen. Hoffen wir, dass Gemeinden dies sehen und „ihren“ Kindern und Jugendlichen nachgehen.

Vielen Dank für das Gespräch!

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Eine Antwort

  1. Der Appell der Autorin: „Dazu braucht es Mitarbeiter, die selbst im Glauben gefestigt sind und Christus als Lebensmittelpunkt haben.“ ist ja richtig, nur diese sind rar gesät. Ich bin davon überzeugt, das Kirchengemeinden nach der Corona-Krise in vorhandene oder ehemalige Mitarbeiter massiv investieren müssen. Vorrangiges Ziel wird es sein, die „Ehremamtlichen“ wieder zurückholen bzw. zurückgewinnen. Möge Gott die Anstrengung segnen.

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