Vor seinem Amtsantritt am 6. Mai versprach Friedrich Merz einen Politikwechsel – auch und vielleicht gerade mit Blick auf Außenpolitik. Wie solch eine Neuausrichtung aussehen soll, erklärte er vor der Wahl über Monate hinweg in zahlreichen Interviews und Talkshowauftritten: Bessere Beziehungen zu den europäischen Nachbarn, weitreichende Unterstützung der Ukraine – und von der Bereitstellung des Marschflugkörpers Taurus sprach Merz ebenso wie von der bedingungslosen Unterstützung Israels im Kampf gegen die Hamas. O-Ton Merz: Das sei „unmissverständlich klar“.
100 Tage nach Amtsantritt zeigt sich, dass der Schwerpunkt der Merz’schen Kanzlerschaft tatsächlich auf Außenpolitik liegt. Und die Bilanz liest sich durchaus beeindruckend: Er traf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, den polnischen Amtskollegen Donald Tusk, reiste zum Antrittsbesuch nach Brüssel, anschließend eine erste Stippvisite in der Ukraine mit Macron, Tusk und dem britischen Premier, Keir Starmer. Merz gelang es, das E3-Format (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) wieder mit Leben zu füllen. Zu dem Zeitpunkt war Merz gerade einmal eine halbe Woche im Amt.
Diese Liste der Auslandsbesuche ließe sich – auch über Antrittsbesuche hinaus – problemlos fortsetzen. Merz zeigte glaubwürdig: Deutschland will gemeinsam mit seinen Partnern internationale Herausforderungen angehen und die Zusammenarbeit ausbauen. Vor allem zeigt Merz immer wieder, dass er die Ukraine nicht fallen lassen will – auch wenn er sich schlussendlich wie sein Vorgänger Olaf Scholz gegen die Lieferung von Taurus entschieden hat.
Versagen beim Thema Israel
Höhepunkt war aber zweifelsfrei sein Treffen mit Donald Trump in Washington. Zurecht attestierten politische Beobachter dem Kanzler durchweg einen gelungenen Auftritt im Weißen Haus. Er ließ sich nicht vorführen, wirkte äußerst souverän und schlagfertig. Rückblickend waren das die mit Abstand stärksten Wochen des Kanzlers.
Denn eine erste außenpolitische Delle zog sich Merz schon Ende Juni zu. Auf der Digitalmesse „Republica“ sprach er eine Warnung an Israel aus und äußerte sein Unverständnis für die Kriegsführung im Gazastreifen. Sein Außenminister Johannes Wadephul sprach einen Tag später am gleichen Ort gar von „Zwangssolidariät“ gegenüber Israel. Schon damals äußerten Unions-Politiker Kritik. Vollends verrannt hat sich Merz jedoch Anfang August beim Thema Israel. Via „X“ teilte er – zur absoluten Überraschung vieler Parteikollegen – und inmitten der parlamentarischen Sommerpause mit, dass Deutschland Waffenexporte nach Israel stoppt. Damit traf er die Union tief in der Seele. Denn bisher galt für CDU/CSU eine absolute Solidarität mit dem jüdischen Staat – auch schon vor Merkels bekannter Staatsräson-Rede in Jerusalem. Sowohl in internen Chat-Gruppen als auch öffentlich äußerten unzählige Unionspolitiker massiv Kritik – auch weil sie in den Entscheidungsprozess nicht involviert worden.
Es war nicht das erste Mal, dass Merz impulsiv und ohne großen Vorlauf Entscheidungen traf. Bereits vor der Wahl, kurze Zeit nach dem Attentat von Aschaffenburg, rief Merz – wohl aus echter Betroffenheit über die Morde – als Oppositionsführer eine Migrationswende aus. Grenzkontrollen, Ausreisearrest und Abschiebungen sollte es von Tag eins seiner Kanzlerschaft geben. Und tatsächlich läutete Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) eine Wende ein. Er ordnete Zurückweisungen an und verschärfte die von der Ampel bereits eingesetzten Grenzkontrollen. Ob diese Bestand haben werden, wird sich erst noch zeigen. Kritiker argumentieren, dass die Kontrollen gegen EU-Recht verstoßen.
Zu oft impulsiv
Dass Merz trotzdem zu seinem Wort der Migrationswende steht, traf bei konservativen Unionisten natürlich auf Lob. Damit hört es aber auch schon auf mit den innenpolitischen Themen, bei denen Merz bei ihnen punkten konnte. Kaum hatte er die Wahl gewonnen, brach er mit einem seiner zentralen Wahlversprechen, den Haushalt zu konsolidieren, indem er den Rotstift ansetzt. Stattdessen entschied er sich für genau das, was er SPD und Grünen im Wahlkampf stets vorgeworfen hatte, nämlich gigantische neue Schulden ohne echte Reformen.
Wichtige Zukunftsthemen wie eine Rentenreform ignoriert Merz bislang. Und ließ seine Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) mit ihren Forderungen nach einem späteren Renteneintrittsalter im Regen stehen. Merz will zwar weiterhin wirtschaftliche Aufbruchstimmung versprühen. Der große Plan dahinter ist aber noch nicht erkennbar.
Sein oft impulsiver und unabgestimmt wirkender Führungsstil (siehe Waffenlieferungen an Israel) fiel ihm auch innenpolitisch auf die Füße, als Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin gewählt werden sollte. Fraktionschef Jens Spahn (CDU) hatte der SPD Zustimmung signalisiert, auch durch den Richterwahlausschuss schaffte es die Personalie. Erst dann wurde unter den Entscheidungsträgern bekannt, dass Brosius-Gersdorf in einem wissenschaftlichen Text „gute Gründe“ für eine „Menschenwürdegarantie“ erst ab Geburt sieht. Es sei ein „biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“, dass Menschenwürde überall da gelte, wo menschliches Leben existiert. Viele Christdemokraten konnten das mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren, Brosius-Gersdorf wurde schließlich fallen gelassen. Dass es so weit kam, hat vor allem Spahn zu verantworten, aber auch Merz machte alles andere als eine gute Figur. Statt Kritikern zuzuhören, ging er in die Vorwärtsverteidigung. Der Schaden am Ende war groß, das Verhältnis in der schwarz-roten Koalition gilt als belastet. Merz ist daran nicht unschuldig.
Deutschland laizistisch?
Von den Medien wenig beachtet wurde ein echter Fauxpas von Merz, als der an muslimische Studenten appellierte, sie sollten die Werte Deutschlands respektieren. Schließlich sei Deutschland ein „laizistisches Land“ – was Unsinn ist. In Deutschland gibt es keine strikte Trennung von Staat und Religion wie im laizistischen Frankreich, sondern eine privilegierte Partnerschaft der Kirchen mit der Obrigkeit. Als Kanzler kann man das nicht nur wissen, sondern muss es.
Wie haben sich Merz und seine schwarz-rote Koalition also bisher geschlagen? Durchwachsen, wenn auch mit einigen Lichtblicken. Der „Welt“-Journalist Robin Alexander gibt Schwarz-Rot in seinem neuen Buch die „letzte Chance“, das Ruder herumzureißen und um zu verhindern, dass Extremisten an die Macht kommen.
Zu Beginn der Koalition klangen solche Warnungen noch alarmistisch. Dass die Bundesregierung nach 100 Tagen aber bereits so wankt, stimmt dann doch nachdenklich. Nachdenklich zu sein, muss nichts Schlechtes sein. Im Gegenteil: Auch Friedrich Merz täte gut daran, sich ein Vorbild an seiner Vorgängerin Angela Merkel zu nehmen und seine Entscheidung sorgsamer abzuwägen. Zuhören, analysieren, Beratung in Anspruch nehmen – und dann entscheiden, das war ihre größte Stärke. Sie ist zugleich Merz’ größte Schwäche.
Noch hat er Zeit, das zu ändern.
Von: Nicolai Franz und Martin Schlorke