EU-Kommissarin Johansson: „Sind Opfern Schutz schuldig“

Rund 14.000 Menschen wurden in den vergangenen Jahren Opfer von Menschenhandel in der EU. Organisierte Kriminalität hat damit zig Milliarden Euro verdient. Dem will die EU-Kommission nun stärker Einhalt gebieten.
Von Norbert Schäfer
Ylva Johansson ist EU-Kommissarin für Inneres

Die EU drängt auf eine wirksamere Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Dazu hat die EU-Kommission am Mittwoch ein Strategiepapier vorgestellt. Auch bei der Bekämpfung von Menschenhandel will die EU die Mitgliedsländer stärker in die Pflicht nehmen.

Geschäftsmodelle und Strukturen organisierter krimineller Vereinigungen sollen verstärkt ins Visier genommen werden. Die EU-Strategie sieht vor, die europäischen Strafverfolgung „in der physischen und der digitalen Welt“ sowie „von anlassbezogener zu dauerhafter polizeilicher Zusammenarbeit“ zu führen. So sollen Geldströme nachvollziehbar gemacht und den Straftätern die finanzielle Grundlage entzogen werden. Das soll in den kommenden fünf Jahren online als auch offline grenzüberschreitend geschehen. 

Inanspruchnahme soll strafbar werden

Die Einnahmen aus der organisierten Kriminalität in den bedeutendsten Kriminalitätsbereichen haben sich 2019 in der EU auf rund 139 Milliarden Euro belaufen. Das entspricht in etwa einem Prozent des Bruttoinlandsproduktes der Europäischen Union (EU). Menschenhändler erzielten mit ihren kriminellen Machenschaften weltweit schätzungsweise 29,4 Milliarden Euro. Mehr als 14.000 Opfer von Menschenhandel sind 2017 und 2018 allein in der EU ermittelt worden. Mehr als die Hälfte dieser Opfer stammt aus EU-Mitgliedsländern, ebenso 75 Prozent der betroffenen Kinder. Die EU-Kommission geht davon aus, dass die Nachfrage nach Ausbeutung durch Menschenhandel weiter anhält und durch die Corona-Pandemie sogar steigt.

Der Handel mit Menschen soll in der EU keinen Platz mehr haben, erklärte EU-Kommissarin Ylva Johansson am Mittwoch. „Wir sind den Opfern unseren Schutz schuldig“, sagte sie. Kriminelle, die Menschen wie Ware behandelten, sollen vor Gericht gestellt werden. Zukünftig soll nun nach dem Willen der EU-Kommission auch bestraft werden können, wer eine Dienstleistung von Opfern des Menschenhandels in Anspruch nimmt. Bislang macht sich nur der strafbar, der ein Opfer von Menschenhandel anstellt.

Das Internet – der moderne Sklavenmarkt

Der Großteil der Opfer seien Frauen und Kinder, die sexuell ausgebeutet werden. Etwa 14 Milliarden Euro erwirtschafteten Menschenhändler und Zuhälter an der sexuellen Ausbeutung infolge von Menschenhandel in einem Jahr. Opfern von Menschenhandel werden laut der EU aber auch als billige Arbeitskräfte eingesetzt und ausgebeutet. Organisierte kriminelle Vereinigungen agierten professionell und länderübergreifend, erklärte Johansson. Die kriminellen Aktivitäten tarnten sich vom Sushi-Imbiss, über Baufirmen bis zu Frisörgeschäften. Etwa zwei Drittel der kriminellen Organisationen sind nach EU-Angaben in mehr als drei Mitgliedstaaten aktiv. Sie hätten sich schnell an die Pandemie angepasst, etwa indem sie Tätigkeiten ins Internet verlagerten und gefälschte oder nicht existierende Arzneimittel verkauft hätten. „Wir haben bereits betrügerische Verkaufsangebote für über eine Milliarde Impfstoffdosen aufgedeckt“, sagte die Kommissarin.

Bei den Aktivitäten der Menschenhändler und Schleuser spielt nach EU-Angaben das Internet eine immer größere Rolle. Aktivitäten würden zunehmend ins Netz verlagert. Deshalb strebt die Kommission Gespräche und Zusammenarbeit mit Internetfirmen an, um die Werbung von Opfern über einschlägige Online-Plattformen zu erschweren und die Datenspuren der Täter im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben leichter verfolgen zu können.

IJM: „Kultur der Straflosigkeit“ muss weichen

Eine europäische Richtlinie gegen Menschenhandel gibt es seit 2011. Sie wird nach Angaben von Johansson aber noch nicht in allen Ländern voll umgesetzt. Die Kommission will deshalb den Druck erhöhen, notfalls mit Vertragsverletzungsverfahren gegen die betreffenden Länder vorgehen. Der Vorstandvorsitzende der International Justice Mission Deutschland (IJM), Dietmar Roller, zeigte sich erfreut darüber, „dass der Kern und die Dimension dieser Herausforderung und ihre spezifisch europäische Verortung inzwischen gesehen und anerkannt“ wurden.

Roller begrüßt, dass die EU mit ihrer Strategie „einer Kultur der Straflosigkeit“ entschlossener entgegentreten will. IJM sieht aber „eklatante Lücken bei der fachlichen Ausstattung von Justiz und Polizei, um Fälle von Menschenhandel zu erkennen und erfolgreich in relevante Rechtsprechung zu überführen“. Zudem mangele es an der angemessenen Sensibilität mit den Betroffenen. „Dramatisches Versagen der EU-Kommission sehen wir ganz aktuell in dem fehlenden Engagement zur effektiven Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern im Internet“, erklärte Roller. Eine entsprechende Verordnung sei in den vergangenen Monaten nicht auf den Weg gebracht worden – und dadurch eine dramatische Zunahme dieser Form des Menschenhandels zu erwarten.

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