Rund vier Milliarden Menschen weltweit haben nach UN-Angaben kein Rechtssystem, das sie vor Sklaverei und Ausbeutung schützt. Dagegen kämpft der Menschenrechtsanwalt Gary A. Haugen. Mit seinem Buch „Gewalt – die Fessel der Armen“ will er die Debatte über Armut, Gewalt und Ausbeutung neu anfachen.
Der Menschenrechtsanwalt Gary Haugen kämpft gegen Gewalt und Ausbeutung von Menschen in Armut
Haugen wurde 1994 als Jurist von den Vereinten Nationen (UN) als Chefermittler mit der Untersuchung des Völkermords in Ruanda beauftragt. Seine Erfahrungen aus dieser Tätigkeit motivierten ihn zur Gründung der Menschenrechtsorganisation International Justice Mission (IJM) im Jahr 1997. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, Arme vor Gewalt, Sklaverei, Korruption, Ausbeutung und Menschenhandel zu schützen, indem sie in den betreffenden Ländern Strukturwandlungen im Polizei- und Gerichtswesen fördert und fordert. Dazu arbeitet die Organisation mit lokalen Behörden zusammen, um vor Ort die Täter zur Verantwortung zu ziehen, vor Gericht zu stellen und die Opfer aus der Gewalt zu befreien.
Am Donnerstag hat Haugen in Berlin sein aktuelles Buch vorgestellt. Darin beschreibt der Amerikaner anhand von Beispielen, worunter die Ärmsten am meisten leiden, und macht Vorschläge, was dagegen getan werden kann. Mit dem Buch will Haugen nach eigenen Angaben die Debatte darüber neu entfachen, wie weltweit Armut bekämpft und funktionierende Rechtssysteme wieder aufgebaut werden können.
Blitz wahrscheinlicher als Strafe
„Wer in Bolivien ein Kind sexuell missbraucht, rutscht eher in der Dusche aus und stirbt daran, als dass er für diese Tat ins Gefängnis kommt“, erklärte Haugen die Situation von Missbrauchsopfern in dem südamerikanischen Land. Ähnlich sei die Lage in Indien. Es sei wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als dort wegen Menschenhandels und Sklaverei verurteilt zu werden. „Armut ist ein stilles, verborgenes Desaster“, sagte Haugen. Mit seinem Buch will er darauf aufmerksam machen, dass es in vielen Ländern kein funktionierendes Rechtssystem gebe und dadurch die „Ärmsten in einem gesetzlosen Chaos der Gewalt“ hinterlasse. Weltweit lebten derzeit rund 35 Millionen Menschen als Sklaven. „Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden mehr Menschen als Sklaven gehalten als heute“, sagte Haugen.
In Entwicklungs- und Schwellenländern hätten arme Menschen kaum Zugang zu ihren Rechten. „Weil dort Korruption herrscht, das Rechtssystem am Boden liegt oder die Opfer aus Scham und Misstrauen gegenüber den Behörden lieber schweigen, bleiben viele arme Menschen täglich der Bedrohung durch Gewalt, Hunger und Krankheit ausgesetzt“, sagte Dietmar Roller, Vorstandsvorsitzender von IJM Deutschland, bei der Buchvorstellung.
Bildung gegen Armut und Gewalt
Eine Möglichkeit, effektiv Armut zu bekämpfen, sei es, Mädchen in Entwicklungs- und Schwellenländern Zugang zu Bildung zu verschaffen. Doch Mädchen gingen dort häufig nicht zur Schule, weil sie Opfer von Übergriffen und Missbrauch würden. Die Schule sei „der anfälligste Ort für junge Mädchen, Opfer sexueller Gewalt zu werden“, sagte Haugen. Der Weg, durch Bildung der Armut entgegenzuwirken, würde somit durch Gewalt untergraben.
Haugen sprach vom „Kollaps der Strafverfolgungsbehörden“ in Entwicklungs- und Schwellenländern: „Wohlhabende Menschen in diesen Ländern wissen darum, dass der Polizeiapparat am Boden liegt. Daher bedienen sie sich immer häufiger privater Wach- und Schutzfirmen.“ In Entwicklungsländern sei daher die Zahl privater Sicherheitsbediensteter zwischen vier- bis siebenmal so hoch wie die Anzahl der Polizisten. Diejenigen, die es sich leisten könnten, sorgten selbst für ihre Sicherheit. Dies bedeute, „dass rund zwei Milliarden Menschen in einem gesetzlosen Chaos zurückgelassen werden“.
Weltgemeinschaft will zu Rechten verhelfen
Roller erklärte an einem aktuellen Beispiel das Dilemma, in dem sich Opfer in den betroffenen Ländern befinden, und zitierte aus einem Ratgeber für Zuwanderer, die nach Deutschland kommen: „Wenn Sie von Fremden angegriffen werden, scheuen Sie sich nicht, die Polizei zu rufen. Deutsche Polizisten sind umfangreich ausgebildet und haben die gesetzliche Verpflichtung, Ihnen zu helfen. Polizisten in Deutschland sind nicht bestechlich. Es ist verboten, ihnen Geld anzubieten, um Vorteile zu erreichen.“ In Teilen Südamerikas und Gebieten Asiens sei hingegen die Lebensrealität eine völlig andere. Roller verwies darauf, dass es zu den zentralen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen gehört, jedem Menschen auf dieser Welt Zugang zu den gleichen, verlässlichen Rechten zu verschaffen.
Roller appellierte an den Staat, mehr Mittel für die Erlangung dieser Ziele frei zu machen und die Forschung und Öffentlichkeitsarbeit zu fördern. IJM berät unter anderem die UN bei der Erörterung möglicher Lösungen. In Deutschland ist die Organisation darum bemüht, Politiker für dieses Thema zu sensibilisieren, und unterstützt die Aktion „Gemeinsam gegen Menschenhandel“, die sich auch gegen Zwangsprostitution in Deutschland engagiert. (pro)
Gary A. Haugen/Victor Boutros: „Gewalt – die Fessel der Armen“, Springer Spektrum, 355 Seiten, 24,99 Euro, ISBN 9783662470534
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