Meinung

Ein Amisch in Berlin

Einen jungen Amisch aus Amerika verschlägt es nach Berlin. Die Stadt zwingt ihn, den Lebensstil seiner frommen Religionsgemeinschaft in Frage zu stellen. Er muss sich entscheiden: Ein Leben unter Strenggläubigen oder ein Leben im hippen Berlin.
Von Jörn Schumacher
Rumspringa

„Rumspringa“, so wird die Zeit der Jugendlichen bei den Amisch in Amerika bezeichnet, in der sie sich die Welt anschauen sollen. In dieser Zeit dürfen sie Dinge tun, die sonst den Amisch streng verboten sind: etwa auf Partys gehen oder sich einem Mädchen nähern – natürlich nur bis zu einer gewissen Grenze. Nach dem Rumspringa müssen die jungen Leute schließlich die Wahl treffen, ob sie sich für das Leben in der Gemeinde bei den Amisch entscheiden oder für ein Leben außerhalb. In dem gleichnamigen deutschen Spielfilm macht sich der Amisch Jacob ausgerechnet im hippen und verführerischen Berlin auf die Suche nach der Antwort. Eines ist klar: in Berlin gibt es viel zum Rumspringen.

Die Amisch sind eine täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft. Sie lehnen die Taufe von Säuglingen ab, vielmehr sollen sich die Gläubigen selbst entscheiden, ob sie getauft werden wollen. Und auch ob sie Teil der Amisch-Kultur bleiben wollen oder nicht, sollen sie frei entscheiden können – und zwar nach dem Rumspringa.

Jacob verbringt sein Rumspringa in Berlin – und ist sofort von der Stadt völlig überfordert. Diese Ausgangssituation bietet der Regisseurin und Co-Drehbuchautorin Mira Thiel viele Chancen für lustige Begebenheiten. Von der Taxifahrerin mit der frechen „Berliner Schnauze“, über spanischen Touristen, die gerade aus einem Club kommen – bezeichnenderweise ist der Club eine ehemalige große Kirche aus rotem Backstein. Berlin eben.

Jacob hat im Grunde nicht mehr als eine Bibel dabei. Geld spiele für seine religiöse Gemeinschaft keine Rolle, sagt er. Außerdem wolle Gott nicht, dass die Menschen sich gegenseitig fotografieren. Denn das sei eitel. Und als er in einer Seitenstraße verprügelt wird, wehrt er sich nicht: „Ich schlage niemanden.“

Hipster und Amisch – leicht zu verwechseln

In der Stadt erkennt Jacob schnell einen vermeintlich Gleichgesinnten, einen Mann Gottes, der so gekleidet ist wie er und einen ordentlichen Bart trägt. Die Person ist jedoch kein Amisch, sondern ein Hipster. Im Späti spricht er seinen vermeintlichen Kollegen an: „Bist du auch auf Rumspringa?“ „Nee, ich bin auf ’n Bier.“

Den Flughafen nennt Jacob übrigens „Luftschiffhof“, und irgendwie finden die Berliner den Mann vom anderen Stern süß und interessant. Die Berlinerin Freja sieht in den Amischen sogar genau das Ideal, das die „Fridays for Future“-Anhänger propagieren: „Ich bin ein Riesenfan eurer Öko-Kultur“, sagt sie. „Wenn alle so leben würden wie die Amische, dann würde die Welt nicht in 50 Jahren untergehen.“

Und so befruchten sich im Laufe des Films beide Kulturen gegenseitig. Der Hipster Alf nimmt Jacob bei sich auf. Zwischen den beiden entsteht eine tiefe Freundschaft. Durch Jacobs Weltsicht („Ich will eigentlich nur ein guter Mensch sein, dann habe ich schon alles erreicht im Leben.“) stellt er Alfs Karrieredenken in Frage. Jacob wiederum macht Party, nimmt Pillen und hat seinen ersten Sex.

Der Amisch und die Liebe

Aber gerade in Sachen Liebe kann Jacob seinen deutschen Freunden noch etwas beibringen. „Wir sind nur ein einziges Mal verliebt“, sagt er den abgehetzten Berlinern, die sich fragen, ob immer neue Kurzzeit-Beziehungen wirklich auf Dauer glücklich machen. „Wir bleiben ein Leben lang beieinander“, erklärt Jacob das Prinzip der Monogamie und fasziniert damit die Berliner. Wertvoll für die Social-Media-Nutzer ist auch Jacobs Beziehungstipp: „Ihr müsste euch so kennen lernen, wie ihr wirklich seid, und nicht immer als jemand ausgeben, der man gar nicht ist.“

Die Amisch, die von Mennoniten abstammen und ab dem 17. Jahrhundert nach Amerika auswandern, leben ein Leben abseits der Zivilisation und ohne moderne Technik. Die Haushalte haben keinen Stromanschluss, Autos sind verboten. Außerdem schätzt die Gemeinschaft den Wert der Familie, mit klar vorgegebenen Geschlechterrollen, sehr.

Authentischer Glaube

Und auch seinen Glauben nimmt Jacob mit auf seine Reise nach Berlin. Bemerkenswert: Filmemacherin Thiel macht sich nie über Jacobs Glauben lustig, sondern behandelt ihn mit Respekt und einer gewissen Ehrfurcht. So wie auch Ina, in die sich Jacob verliebt hat. Ihr spielt Jacob die Musik der Amisch vor. Das Lied „Gott ist die Liebe. Lässt mich erlösen. Er liebt auch mich. Er sandte Jesus, den treuen Heiland“, klingt in ihren Ohren äußerst befremdlich. Zwei Kulturen prallen aufeinander, aber beide Seiten merken, dass man voneinander viel lernen kann. Vor allem steht Jacobs Glaube für Authentizität, und davon gibt es in Berlin nicht so viel.

Schließlich lernt auch Jacob eine wichtige Lektion. Die Frage, ob er „bei Gott“ beziehungsweise bei den Amisch bleiben will oder aber „für immer Rumspringa“ machen soll, beantwortet er folgendermaßen: „Was du mit deinem Leben machen willst, kannst nur du wissen, auch als Amisch.“ Er muss seinen eigenen Weg finden. Jacob schreibt an seine Eltern: „Es gibt noch viel zum Rumspringen in Berlin. Das eine würde der Bischof gern sehen, das andere nicht.“

„Rumspringa“, 101 Minuten, Regie: Mira Thiel, Netflix

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2 Antworten

  1. Wenn in Berlin bald wieder Pferdefuhrwerke statt Autos fahren, wird er sich wie zu Hause fühlen.

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  2. Auf alle Fälle kommen die Amischen, die ja überwiegend Landwirtschaft betreiben, gut zurecht. Was wohl damit zusammenhängt, dass sie mehr Freiheiten haben, kaum staatliche Vorschriften und Protektion und regionl verkaufen. Und sie leben in einem Land , dass überhaupt und auf dem Land besonders, relativ dünn besiedelt ist. Dazu leben sie persönlich bescheiden.

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