Netflix entdeckt das strengreligiöse Judentum

Mehrere Streaming-Serien haben inzwischen das orthodoxe Judentum zum Thema. Seit diesem Sommer kommt eine weitere hinzu: Der Zuschauer wird Zeuge des Glamour-Lebens von Julia Haart, einst braver Teil einer jüdisch-orthodoxen Community in New York, heute Chefin der größten Model-Agenturen der Welt.
Von Jörn Schumacher

Strengreligiöse Gemeinschaften wie die der orthodoxen Juden haben offenbar eine Menge interessanter Einblicke zu bieten. Anders ist es nicht zu erklären, dass das Interesse in der Popkultur immer wieder groß ist, Tendenz steigend. Bieten diese unbekannten Welten doch genug Möglichkeiten zur Spekulation über die Unterdrückung von Frauen, Rückständigkeit und Weltfremdheit. Im Film „Teurer als Rubine“ aus dem Jahr 1998 spielte Renée Zellweger eine junge Frau, die in einer orthodoxen Gemeinschaft in Brooklyn lebte und so sich so unfrei fühlte, dass sie sich einen Weg auch über die eine oder andere Sünde hinauskämpfte.

2017 zeigte der Spielfilm „Ungehorsam“ mit Ronit Krushka (Rachel Weisz) eine Frau aus einer ultraorthodoxen jüdischen Familie in London, die als das „schwarze Schaf“ der Familie ihren Weg ins selbstbestimmte Leben außerhalb der religiösen Gemeinschaft sucht.

In den letzten Jahren starteten auf dem Streamingdienst Netflix Serien, die ebenfalls das orthodoxe Judentum zum Thema haben. „One of us“ zeigt seit 2016 das chassidischen Lebens in Brooklyn, dem zwei Mitglieder den Rücken kehren. Die deutsche Regisseurin Maria Schrader zeigt in „Unorthodox“ (2020) in vier sehr erfolgreichen Folgen eine junge Frau, die sich von einer ultra-orthodoxen jüdischen Religionsgemeinschaft in New York lossagt und in Berlin ein ganz neues – ganz unorthodoxes – Leben beginnt. Und die 33 Folgen umfassende israelische Netflix-Serie „Shtisel“ gibt einen Einblick in das Alltagsleben von ultraorthodoxen jüdischen Familien in Jerusalem.

Seit Juli reiht sich die Reality-Soap „My Unorthodox Life“ in den Reigen ein. In den neun Folgen der Scripted-Reality-Show geht es um die amerikanische Unternehmerin Julia Haart, die in einer orthodoxen Gemeinschaft New Yorks aufwuchs, aber mit 42 beschloss, ein Leben „in der Welt“ zu führen. Haart ist heute Modedesignerin und Chefin der weltweit größten Model-Agentur „Elite World“. Der Zuschauer begleitet Haart und ihre Familie, wie sie nun – fernab des orthodoxen Weltbildes – ein Leben im Glamour führt. „Das ultraorthodoxe Judentum ist derzeit unglaublich angesagt“, stellt auch das Time-Magazin fest.

Angst vor Fundamentalismus

Geboren wurde Julia Haart 1971 in Russland als Julia Leibov. Als sie drei Jahre alt war, zogen ihre Eltern erst nach Texas und dann nach New York, und im Jahr 2013 hielt Haart das Leben bei den Ultraorthodoxen nicht mehr uns und kehrte der Gemeinschaft den Rücken zu. Ihr Ziel: Als erfolgreiche Geschäftsfrau auf eigenen Beinen stehen und ohne das orthodoxe Judentum glücklich werden. Je mehr Regeln der Orthodoxen sie brechen kann, desto besser. Verheiratet war Julia früher mit Yosef Hendler, einem Tora-Lehrer, mit dem sie vier Kinder hat. Von ihm ließ sie sich scheiden, drei der Kinder nahm sie mit ins neue Leben. Beim jüngsten Sohn, Aron, hat die Austreibung des orthodoxen Judentums noch nicht so richtig gewirkt, aber sie arbeitet daran. Aron will doch tatsächlich orthodoxer Jude werden und lernt fleißig in der Bibelschule. Inzwischen ist Haart neu verheiratet mit dem Unternehmer Silvio Scaglia Haart und eine wichtige Figur in der Modewelt.

Die heute 59-jährige Haart tut alles dafür, dass nur ja keines ihrer Kinder etwas mit Religion zu tun hat. Alles, was gegen jüdische Regeln verstößt, ist ihr sympathisch. Unkoscheres Essen? Warum nicht? Dabei versichert Haart, ganz tolerant zu sein: „Mir geht es nicht um das Judentum oder Religion. Es geht um Fundamentalismus.“ Dabei hat ihre Ablehnung alles Jüdischen fast schon selbst etwas Fundamentalistisches. Mit ihrem orthodoxen Ex-Mann geht sie recht liebevoll um, aber sobald sie bei ihren Kindern auch nur den Ansatz einer Neugier für das Religiöse zu spüren meint, wird sie ungemütlich.

„Ich bin gerne Jüdin“, sagt Haart zwar, fügt aber warnend hinzu: „Doch Fundamentalismus ist immer gefährlich. Egal ob jüdisch, muslimisch oder christlich.“ Frauen seien in ihrer ehemaligen jüdischen Gemeinschaft „Menschen zweiter Klasse“, „eine Frau muss dort dem Mann gehorchen und Babys produzieren.“ Ihre Ehe empfand sie selbst wie ein Gefängnis. Als Haart ihrem Ex-Mann einen Besuch abstatten möchte, schaut sie mit ihren Töchtern in einem orthodoxen Supermarkt vorbei und gibt sich redlich Mühe, mit ihrem Outfit (knappes Kleid und hohe Absätze) die Kunden zu provozieren.

Ihre zwei Töchter hat Haart bereits auf ihrer Seite, sie wollen mit dem orthodoxen Judentum nichts mehr zu tun haben. Möglichst offen, möglichst unorthodox, spricht Haart mit ihnen über Sex. Sie erforsche gerade ihre Sexualität, sagt Tochter Miriam, und dazu gehört auch die gleichgeschlechtliche Sexualität. Eigentlich überflüssig, dass sie betont: „In der orthodoxen Gemeinschaft war es völlig undenkbar, schwul oder lesbisch zu sein.“ Nur der 14-jährige Sohn Aron leistet Widerstand, er will mit dem Sex warten und kein Fernsehen mehr schauen. „Eine Ablenkung, die ich nicht brauche“, sagt er, schließlich will er die Zeit mit dem Studium der Tora verbringen. Auch sein Bruder Shlomo mag immerhin mit dem Schabbat nicht brechen: „Ich finde es schön, einen Tag pro Woche zu nehmen, an dem man sich auf das konzentriert, was wirklich wichtig ist.“

Freiheit, aber nur nach eigener Definition

Die jüdische Autorin Jenny Singer warnte in einem Beitrag für das amerikanische Magazin „Glamour“, Julia Haart proklamiere in der Serie mehrmals, wie „gefährlich“ die orthodoxen Juden seien. Und haue damit in dieselbe Kerbe, in die Rechtsradikale hauen. Singer erinnert an den furchtbaren Anschlag vom Dezember 2019, als ein Mann eine jüdisch-orthodoxe Chanukka-Party stürmte und mit einer Machete auf die Mitglieder eben jener Gemeinde in Monsey in New York eindrosch, die in „My Unorthodox Life“ thematisiert wird. Zudem gebe Haarts Tochter unkritisch Gerüchte über heimliche Sex-Treffen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft wieder. Die Autorin weist die Darstellung zurück, dass sich alle strengreligiösen Jüdinnen wie in einem Gefängnis fühlen. „Ich selbst empfinde meine jüdische Religion als sehr erfüllend“, so Singer.

Der deutsche Trailer zu „My Unorthodox Life“

Allison Josephs von der orthodoxen Organisation „Jews in the City“ versucht, die schlimmsten Vorurteile der Serie geradezubiegen. Vor allem die Darstellung der unfreien Ehefrauen sei „schlichtweg falsch“, betont auch sie. Und natürlich gebe es bei den Orthodoxen auch „Fundamentalisten“, aber die würden meistens von den Gemäßigten überstimmt.

Frauen würden nicht unterdrückt, sondern vielmehr geschützt vor Objektivierung und Sexualisierung in der säkularen Welt, argumentiert Josephs. Sex werde in der Tat in der orthodoxen Community als etwas von Gott Gegebenes und Heiliges angesehen, das man nicht aus der Ehe nach außen und offen legen sollte. Homosexuelle gebe es offensichtlich auch bei den Orthodoxen, so Josephs, betont aber zugleich: „Das Verlangen ist nicht das Problem, aber gemäß der Tora ist das Ausleben davon (besonders bei Männern) sehr wohl eins.“

Esther D. Kustanowitz vom Magazin „The Jewish News of Northern California“ kritisiert eine gewisse Bigotterie bei der Serien-Hauptperson Haart: „Sie will für andere Freiheit, aber nur so, wie sie sie definiert. Ihr jüngster Sohn Aron etwa will in der Tora-Gemeinschaft von Monsey bleiben, aber sie will, dass er Teil der säkularen Welt wird. Und wenn eine junge Dame diese religiöse Gemeinschaft verlassen möchte, scheint für Haart der Weg zu mehr Selbstständigkeit nur über Makeup und neue Kleider zu führen.

Ihre ‚Freiheit‘ kommt mir vor wie eine andere Art der Unterdrückung.“ Es bleibt die Frage, ob Julia Haart ihr Leben in der vermeintlichen Freiheit, umringt von Schuhen, Models und teuren Autos, nicht irgendwann zum Hals raushängt. Vielleicht bleibt die Reality-Soap ja lange genug am Ball, bis sich Haart wieder mehr für das interessiert, was ihre beiden Söhne immerhin als das Wichtigste im Leben ansehen.

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