„Du bist ein Gott, der mich sieht“: Glaube, Fanatismus und die Frauen im Iran

Die Jahreslosung erinnert unsere Autorin an eine der bekanntesten Serien der letzten Jahre. Und an die Frauen im Iran. Denn religiöser Fanatismus ist oft nur einen Steinwurf vom Glauben entfernt.
Von Anna Lutz

Eines der bewegendsten Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe, ist „Der Report der Magd“ von Margaret Atwood. Es ist schon etwas älter, aber vielen ist vielleicht die gleichnamige und mehrfach preisgekrönte Serie ein Begriff.

Weder Buch noch Serie sind etwas für schwache Nerven. Die Geschichte nimmt den Leser mit in eine dystopische Zukunft. Religiöse Fanatiker haben die Welt in zwei Klassen aufgeteilt: Da sind einerseits diejenigen, die in schönen Häusern und im Wohlstand leben. Und andererseits diejenigen, die ihnen dienen müssen. Sklaven. Denen bei Ungehorsam drakonische Strafen und die Steinigung drohen. Alles religiös gerechtfertigt natürlich.

Der Report der Magd: Religiöser Fanatismus im Buch

Die einen kochen, putzen oder kümmern sich um andere Arbeiten im Haus. Sie müssen darauf achten, nichts falsches zu sagen, nicht gegen das Regime aufzubegehren, und sei es nur durch unachtsame Gesten. Noch schwerer haben es jene Frauen, die auf der untersten Stufe der Hierarchie stehen. Sie gebären Kinder für die Hausherrinnen.

Denn in der Welt der Zukunft gibt es zahlreiche Totgeburten, viele Frauen werden gar nicht erst schwanger und wenn es doch klappt, sterben sie häufig nach der Entbindung. Deshalb sind die Sklavinnen dafür zuständig – inklusive erzwungenem Sex mit dem Ehemann. Nur für diesen Akt sind Berührungen erlaubt, ansonsten dürfen die Sklavinnen nicht einmal Blickkontakt mit den Herrschenden aufnehmen.

Sollten die Frauen tatsächlich schwanger werden, wird ihnen das Kind sofort nach der Geburt weggenommen und in die Hände der Hausherrin gegeben, die es dann als ihr eigenes aufzieht. Und nicht selten sind die Ehefrauen trotz der strengen Regularien eifersüchtig und lassen die Sklavinnen im täglichen Leben absichtlich leiden.

Atwoods Geschichte begleitet eine dieser Sklavinnen in ihrem täglichen Leben bis hin zum Widerstand gegen die religiösen Fanatiker. Es ist eine Geschichte über das Leid der Frauen, seien sie nun Herrschende oder Unterdrückte. Und auch über ihre Kraft, zu kämpfen.

Eifersucht, die zu Hass wird

Sie erinnern mich an Hagar und Sarai aus der Bibel. Als ich das erste Mal die Geschichte rund um die Jahreslosung 2023 las, musste ich gleich an den „Report der Magd“ denken. „Du bist ein Gott, der mich sieht“ aus dem 1. Buch Mose ist ein Satz, den Hagar sagt, als sie auf der Flucht vor ihrer Herrin ist. Die heißt Sarai und ist die Ehefrau des biblischen Urvaters Abraham, der damals noch Abram hieß.

Sarai und Abram haben die Verheißung bekommen, zahlreiche Kinder zu haben. Doch Sarai wird nicht schwanger. Und nach einer gewissen Zeit, wird sie ungeduldig. Sie bittet ihren Mann, doch ein Kind mit ihrer Sklavin Hagar zu zeugen – und das gelingt.

Doch als Hagar schwanger ist, wird Sarai eifersüchtig. Sie lässt Sarai leiden, so sehr, dass diese irgendwann flieht. Mitten in ihrer Not – allein, schwanger und auf der Flucht – begegnet ihr Gott in der Wüste. Er prophezeit ihr nur Gutes, viele Nachkommen, ein erfülltes Leben: „Der HERR hat gehört, wie du gelitten hast“, sagt er. Und Hagar entgegnet die Worte, die uns in diesem Jahr auf zahlreichen Tassen, Lesezeichen und Buchdeckeln begegnen werden: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“

In Atwoods Buch gibt es keinen Gott, der mit der Sklavin spricht und ihr Gutes sagt. Sie findet die Kraft zum Weiterleben in sich selbst. Bei Atwood ist Religion ein Mittel der Unterdrückung. Göttliche Verheißungen werden so interpretiert, dass sie manchen schaden und andere zu Herrschern erheben.

„Gott sagt: Ich sehe euch, ihr Frauen im Iran“

Tut Sarai nicht genau dasselbe? Sie ist ungeduldig, kann nicht darauf warten, dass sich Gottes Segen von selbst erfüllt, sie will die Dinge selbst in die Hand nehmen. Und wird dadurch zur Diktatorin. Unabsichtlich vermutlich. Und doch wird sie es. Glaube kann leicht zu Fanatismus werden. Ungeduld, Sehnsucht und Macht können eine teuflische Mischung ergeben. Die Jahreslosung lehrt uns nicht nur, dass Gott an der Seite der Leidenden und Einsamen steht, sondern auch, dass wir auf ihn vertrauen müssen, anstatt uns selbst zu Gott zu erklären.

Desfred, die Hauptfigur in Atwoods Roman, ist eine fiktive Figur. Und doch gibt es viele wie sie auch in unserer Welt. All die Frauen (und Männer), die im Iran derzeit auf die Straße gehen, um dem religiösen Fanatismus die Stirn zu bieten. Gott sagt auch zu ihnen: „Ich sehe euch!“ So ist die Jahreslosung nicht nur eine Zusage an jeden von uns. Sondern auch die Aufforderung Gottes an uns: Seht auch ihr hin! Seht die Unterdrückten. Die Leidenden. Die Desfreds und die Hagars dieser Welt. Vergesst sie nicht. Denn ich stehe an ihrer Seite.

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3 Antworten

  1. Gott sieht auf alle seine 8 Milliarden Menschen, es heißt die Augen Gottes durchstreifen das Land, ob da jemand ist der nach ihm fragt. Selig sind die Leid tragen sagt Jesus, eine große Hoffnung für die Leidenden.
    Aber nur wenige spricht er so persönlich an wie Hagar, war es um des Kindes willen, von Abraham gezeugt, oder die schiere Not der Frau die sein Erbarmen hervorrief? Hagar soll laut AT hochmütig auf die kinderlose Sarah geschaut haben. Gottes Ratschluss jedenfalls war, Sarah mit mit dem Söhnchen Isaak zu segnen und zu einem großen, dem auserwählten Volk zu machen. Dieser Plan erfüllt sich bis heute vor unseren Augen. Und nach Paulus gehören auch wir Heiden durch den Glauben zum Volk des Glaubens, so wird die Zahl wie die der Sterne oder wie der Sand am Meer. Ja Gottes Gedanken sind tatsächlich höher wie die unseren und was er vorgesehen hat geschieht, die Geschichte Gottes mit seinen Menschen ist schlicht und ergreifend ein Wunder vor unseren Augen und was für ein Vorrecht, wenn er uns hineinwebt in diese Geschichte.
    Dann wird das Logos zum Rhema, dann dürfen wir auch sagen, du bist der Gott, der mich sieht !

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  2. Wow… Wenn „Der Report der Magd“ zum Hauptteil einer Auslegung der Jahreslosung herangezogen wird, weiß ich, dass ich diese Seite nun wirklich nicht mehr aufsuchen muss.
    Lebt wohl.

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  3. Gott war, ist und bleibt immer auf der Seite der Schwachen, Unterdrückten, Leidenden.

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