Der Glaube ist eine wichtige Ressource in der Demenz

Menschen mit Demenz haben eine innere Logik, die gesunde Menschen nicht nachvollziehen können. Der Theologe Norbert Rose wirbt dafür, dass Christen ihnen dabei helfen, den Glauben trotzdem erfahrbar zu machen. Ein Gespräch über sein neues Buch.
Von Johannes Blöcher-Weil
Der Pastor und Leiter der Langensteinbacher Höhe Norbert Rose

PRO: Herr Rose, kümmern sich christliche Gemeinden genug um das Thema Demenz?

Norbert Rose: Ich würde sagen, sie haben es verdrängt oder nicht deutlich genug wahrgenommen. Das Thema wird wichtiger, weil auch unsere Gemeinden älter werden. Leider haben sich viele von ihnen noch nicht mit dem Thema befasst.

Wo sehen Sie Ansatzpunkte, um daran etwas zu ändern?

Aktuell leiden zwischen 1,5 und 1,8 Millionen Menschen in Deutschland an Demenz – Tendenz steigend. Wir müssen über die Krankheit und ihre Symptomatik informieren. Demente Menschen haben eine völlig andere Logik. Diese müssen wir verstehen lernen. Erst dann können wir ihnen helfen, dass sie nicht permanent in aggressiven oder depressiven Strukturen landen.

Wie sieht diese Logik aus?

Das Perfide an der Krankheit ist, dass Betroffene immer mehr in der Vergangenheit und in einem völlig anderen Bewusstsein landen als wir. Aus dieser Perspektive reagieren sie auf Aktuelles; was uns als Gesunde wiederum irritiert. Das merken wir aber erst, wenn der Kranke aggressiv wird oder durch seltsame Verhaltensweisen.

Wie kann es trotzdem gelingen, dass wir für Demenzkranke den Glauben erfahrbar machen?

Sie haben ja oft in ihren Gemeinden eigene Glaubenserfahrungen gemacht und ihren Glauben gelebt. Das ist ein gutes Fundament, auch wenn dieses verschwimmt oder von älteren Verhaltensmustern überdeckt wird. Ihre Glaubenserinnerungen“ behalten sie aber. Daran sollten wir anknüpfen und diese Erfahrungen erhalten und reaktivieren. Es geht nicht darum, mit Patienten zu diskutieren oder ihnen neue Erkenntnisse zu vermitteln. Wir müssen auf der emotionalen Ebene das hervorholen, was sie früher gelebt und geglaubt haben.

Wo gibt es Ansatzpunkte bei Menschen, die nicht über dieses Fundament verfügen?

Selbst wer ein Leben lang nicht geglaubt hat, kennt biblische Texte oder alte Kirchenlieder, zum Beispiel aus dem Religionsunterricht. Ich beobachte diese Menschen dabei, ob manche Formulierungen oder Ausdrücke bei ihnen etwas auslösen. Über diese Erinnerung kann ich noch einmal daran anknüpfen, was früher einmal gewesen ist.

Hat der Glaube eines Menschen eigentlich Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf?

Das ist nicht klar. Aber es steht fest, dass eine Vertrautheit und Geborgenheit Auswirkungen auf den Verlauf von Demenz hat. Jede Form von Gewissheit und Sicherheit wirkt sich positiv aus. Stress, Angst und Verunsicherung lösen das Gegenteil aus. Von daher ist der Glaube eine wichtige Ressource für Menschen, die sich mental verändern.

Es ist sinnvoll, die Menschen mit möglichst vielen Sinnen anzusprechen. Stimmt das?

Die sinnliche Erfahrung ist sehr wichtig. Vieles, was wir sinnlich erfasst haben, können wir auch dann abrufen, wenn wir manche Dinge rational nicht mehr verstehen können. Hände spüren, ob etwas angenehm ist oder nicht. Alleine das kann etwas Positives bewirken. Auch angenehme Gerüche oder Klänge, die ja auch in der Pflege gezielt eingesetzt werden, sorgen für Wohlbefinden. Bilder sind auch eine große Hilfe – biografisch bedeutsame oder einfach ästhetisch ansprechende Bilder.

Was wünschen Sie sich denn von christlichen Gemeinden im Umgang mit dem Thema?

Wir brauchen eine breitere Akzeptanz, damit demente Menschen nicht als Störenfriede gesehen werden, sondern als Menschen, die ja noch da sind, die aber nur noch sehr verlangsamt denken können. In den Freikirchen ist es ja meistens so, dass die Menschen sehr lange in der Gemeinde aktiv waren und sie finanziell mitgetragen haben. Deswegen sollte die Gemeinde bereit sein, so lange wie möglich mit ihnen gemeinsam Gottesdienste zu feiern. Gemeinde muss aber auch die Angehörigen im Blick haben. Sie sind Mitgefangene der Krankheit und werden mit der Zeit isoliert. Gemeinde könnte Pflegende für ein paar Stunden pro Woche entlasten.

In Ihrem Buch gibt es zahlreiche Entwürfe, biblische Texte aufzugreifen. Soll das im regulären Gottesdienst passieren oder geht es da eher um Alternativangebote?

Leser können die Andachten über einen Link aufrufen und nutzen. Das geht sowohl im privaten Umfeld als auch bei gottesdienstlichen Feiern einer Pflegeeinrichtung. Prinzipiell sind die Entwürfe so konzipiert, dass sie keine neuen Erkenntnisse vermitteln, sondern durch Geschichten oder andere Elemente an alte Dinge erinnern, die demente Menschen verstehen können. Wenn das in einem regulären Gottesdienst geschieht, dann wäre das genial.

Welche Tipps gibt die Bibel im Umgang mit älteren, kranken Menschen?

Die Bibel hat ganz viele tröstende Passagen für kranke Menschen. Die Gewissheit aus Römer 8, dass mich nichts von der Liebe Gottes scheiden kann, ist gewaltig. Diese Gewissheit gilt es zu aktivieren. Auch Menschen, die nicht mehr viel von ihrem Glauben „wissen“, befinden sich immer noch in Gottes Hand. Meine Beziehung zu ihm hängt nicht davon ab, ob ich meinen Glauben noch bewusst formulieren kann. Nicht ich halte Gott, sondern er hält mich. Dies gilt auch für den Zustand, wenn mein Verstand nicht mehr mitmacht. Dessen dürfen auch die gesunden und pflegenden Angehörigen gewiss sein: Der kranke Mensch bleibt in der Hand Gottes.

Was haben Sie durch die Zusammenarbeit mit demenzkranken Menschen gelernt?

Wir dürfen nicht nur auf das Rationale schauen, sondern auch das Emotionale und Impulsive. Auch das anscheinend irrationale Verhalten hat eine Bedeutung. Was der Kranke sagt und möchte, ist wichtig für ihn und das sollten wir ihm nicht ausreden. Gesunde Menschen müssen das erst lernen. Das Rationale wird unwichtiger. Kleine Dinge wie Gestik und Mimik geben die Richtung vor.

Können Sie sich an ein konkretes Ereignis Erlebnissen mit einem Demenzkranken erinnern, wo Sie heute noch eine Gänsehaut bekommen?

Da gibt es positive und negative Erfahrungen. Im Seniorenzentrum lebte einmal eine ältere Dame mit starker nationalsozialistischer Prägung. Durch ihre Demenz war sie wieder in der damaligen Zeit gelandet. Dann kam eine andere demenzkranke Frau mit russischem Akzent auf die Station. Es  ging ein Raunen durch die Räume, als sie rief: „Die Russen sind da.“ Wir mussten dann tatsächlich neue Wege finden, dass sich beide nicht mehr über den Weg liefen. Sie lebten in einer völlig anderen Zeit und konnten sich nicht mehr orientieren, was in der Gegenwart passiert.

Was war das positive Beispiel?

Ich habe eine ältere Frau in unserem Gebäude getroffen, die ich aus früheren Jahren noch als gesunden Menschen kannte. An ihrem Geburtstag habe ich sie dummerweise gefragt, wie alt sie geworden ist. Sie wusste es nicht mehr. Ich konnte ihre Verunsicherung förmlich spüren. Nach langem Überlegen hat sie mir dann geantwortet: „Das verrate ich Ihnen doch nicht!“. Sie hat es geschafft sich herauszuwinden: das war aber nicht nur lustig, sondern auch ein Stück Verzweiflung. Sie hat offensichtlich noch registriert: „Ich weiß etwas nicht, was jeder Mensch eigentlich wissen müsste“. Ich fand genial, wie sie das Problem gelöst hat, auch wenn es für sie sicher ein Kampf war, zu dieser Antwort zu kommen.

Foto: Gerth Foto: Gerth

Das Buch „Fremd und doch vertraut“ ist bei Gerth Medien erschienen und bietet Hilfen für Betroffene und Angehörige der Krankheit an. Auf der Internetseite gibt es diverse Hilfsmitteln für Angehörige & Video-Andachten sowie christliche Lieder zum Mitsingen.

Nächste Woche ist die „Woche der Demenz“. Was erhoffen Sie sich davon?

Die Woche der Demenz ist eine große Chance, um das Thema ins Bewusstsein zu bringen. Es gibt diese Krankheit und sie kann schneller als gedacht das eigene Umfeld erreichen . Wenn Menschen erste Anzeichen erkennen können und sich gegebenenfalls darauf vorbereiten, ist das wertvoll. Wir haben heute schon mindestens 1,5 Millionen Betroffene. Die Alterspyramide zeigt, dass in 20 Jahren für Betroffenen immer weniger Menschen zur Verfügung stehen, die sich um diese kümmern. Die Krankheit kann jeden treffen. Je mehr wir darüber wissen, desto mehr können wir den Verlauf erleichtern und mit einer guten Begleitung hinauszögern. Dann können Betroffene so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung wohnen bleiben.

Bei 1,5 Millionen Betroffenen gibt es viele Angehörige. Wie können Gemeinden helfen?

Wir müssen zunächst einmal die Angst vor der Begegnung mit dementen Menschen überwinden und uns mit ihrem befremdlichen Verhalten beschäftigen. Wir können verstehen lernen, woher es kommt. Dabei lernen wir nicht nur viel über die kranken Menschen, sondern auch über uns und unser Gehirn. Außerdem brauchen wir eine höhere Akzeptanz dafür, dass Menschen sich nicht so klar äußern können, wie wir es gewohnt waren. Trotzdem sollten wir „in den Schuhen der Betroffenen tanzen“ und uns in ihrer rätselhaften Welt bewegen lernen. Dann merken wir, dass es eine erstaunlich klare Welt sein kann, die nur anders strukturiert ist als unsere. Wir sollten uns dafür interessieren, was in deren Welt passiert. In Gemeinden könnten Netzwerke entstehen, die die Angehörigen unterstützen – sowohl in der alltäglichen Betreuung durch Besuchsdienste als auch bei der einfachen Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben und dem Verständnis für die enorme psychische und oft auch körperliche Belastung der Angehörigen. Persönliche Freiräume, Auszeiten und geteilte Verantwortung sind sehr wichtig für die Angehörigen.

Welche Wünsche hätten Sie im Blick auf das Thema Demenz?

Wir müssen die Ursachen der Demenz bald verstehen, damit wir sie auch bekämpfen können. Natürlich wäre es genial, wenn wir Demenz bald behandeln können. Bisher können die Krankheit nur begleiten. Die Forschung beschäftigt sich damit, wie Menschen den Krankheitsverlauf durch ihre Lebensweise beeinflussen können. Als Gesellschaft müssen wir Formen finden, um demente Menschen so lange wie möglich an unserem Leben teilhaben zu lassen. In Restaurants, Theatern oder in Gottesdiensten sollen sie, solange es geht, anwesend sein. Wenn das nicht mehr funktioniert, dann müssen wir Räume schaffen und anbieten, in denen Betroffene mit ihren Angehörigen da sein und aufatmen können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Norbert Rose war lange Pastor der Evangelisch-methodistischen Kirche. Dort hat er unter anderem in einem Seniorenzentrum seine ersten Erfahrungen mit dem Thema Demenz gemacht. Rose ist Vater von sechs Kindern, Pastor und Seelsorgeleiter der Langensteinbacher Höhe und dort vor allem im Bereich Seelsorge und Seminare tätig. Das Buch „Fremd und doch vertraut“ ist bei Gerth Medien erschienen.

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