Gibt es Gnade in der Politik, Frau Bubrowski?

Die Journalistin Helene Bubrowski von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat Politiker gefragt, was ihre größten Fehler waren und ob sie daraus gelernt haben. Das kam nicht bei jedem gut an. Wie viel Menschlichkeit erlaubt der Politikbetrieb?
Von Anna Lutz

PRO: Frau Bubrowski, Sie haben mit „Die Fehlbaren“ ein Buch geschrieben über Intrigen, Machtgeplänkel, Lügen und mangelnde Fehlerkultur unter Politikern. Mögen Sie Ihre Arbeit jetzt eigentlich noch? Schließlich haben Sie als Journalistin ja andauernd mit diesen Leuten zu tun …

Helene Bubrowski: Ich habe kein schlechteres Bild von Politikern. Aber ich habe einen besseren Einblick bekommen, wie hart sie arbeiten, wie unerbittlich der Betrieb ist und wie sehr mancher auch darunter leidet. Ich denke mehr darüber nach, wie man es schaffen kann, in der Politik Mensch zu bleiben. Und auch, wie attraktiv dieses Berufsfeld für junge Menschen ist. Wer mit hohen Idealen einsteigt, wird schnell abgeschreckt sein.

Wussten Sie das nicht vorher?

Doch. Aber ich habe vorher nicht so gezielt mit Politikern über ihre Gefühle gesprochen, wenn sie Fehler machen. Da gibt es die Angst, verraten zu werden, die Vorstellung, dass politische Gegner oder auch Konkurrenten innerhalb der eigenen Partei nur auf einen Fehltritt lauern, um angreifen zu können. 

Kann ein Spitzenpolitiker offen über seine eigenen Fehler sprechen, ohne sein Amt und Mandat zu riskieren?

Es hat sich schon etwas verändert. Mittlerweile ist es genauso heikel, jeglichen Fehler kategorisch von sich zu weisen. Das kostet Vertrauen. Nehmen wir etwa Anne Spiegel …

… die ehemalige Bundesfamilienministerin, die zurücktreten musste, weil sie während der Flut im Ahrtal mit ihrer Familie in Urlaub fuhr. Sie war damals Umweltministerin in Rheinland-Pfalz …

Sie musste eigentlich nicht zurücktreten, weil sie Urlaub mit ihrer Familie gemacht hat, sondern weil sie nicht transparent damit umgegangen ist. Was ich sagen will: Fehlerbekenntnisse können auch deutlich machen, dass man aus seinen Fehlern lernen will und es künftig anders macht. Das Problem ist: Die Kommunikation über Fehler kommt oft zu schnell, bevor geklärt ist, was genau passiert ist, bevor ein Politiker eine Haltung dazu gefunden hat.

„Da gibt es die Angst, verraten zu werden, die Vorstellung, dass politische Gegner oder auch Konkurrenten innerhalb der eigenen Partei nur auf einen Fehltritt lauern, um angreifen zu können.“ 

Journalistin Helene Bubrowski über das politische Berlin

Angela Merkel hat sich laut Ihren Recherchen genau für eine Sache in 16 Jahren Amtszeit entschuldigt: die Osterruhe. Wieso fällt Politikern das Entschuldigen so schwer?

Die Politik ist nach wie vor ein Bereich, in dem geradezu archaische Machtkämpfe stattfinden. Der Stärkere setzt sich durch. Es geht nicht um Fairness oder Gerechtigkeit, sondern darum, Wahlen zu gewinnen. Gegner ist nicht nur das politische Gegenüber in anderen Parteien, sondern auch der Parteifreund, der auf denselben Posten schielt. Also es ist ein hartes Ringen, kein Wattebauschwerfen. Da kann jedes Mittel recht sein. Wer Fehler zugibt, zeigt eine offene Flanke, in die der Gegner hineinstechen kann. 

Jens Spahn sagte 2020 zu Beginn der Coronapandemie: „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Hat er damit nicht eine neue Fehlerkultur in der Politik geprägt?

Ja. Die Erwartung an Verantwortungsträger verändert sich und das macht auch vor der Politik nicht halt. Rambotypen kommen weniger gut an als früher. Und gerade in Zeiten wie der Pandemie ist es ja unglaubwürdig, dass Politiker alles richtig machen. Da mussten Entscheidungen unter Unsicherheitsbedingungen getroffen werden. Das Problem beginnt, wenn sich Fehler wiederholen, wenn sie zu häufig passieren. Aber ich wage mal die Prognose: Wer mit Fehlern nicht umgehen kann, der kann künftig nicht erfolgreich sein.

Rambotypen kommen weniger gut an … demnach würde Friedrich Merz niemals Kanzler?

Merz hat dazugelernt. Aber Sie haben recht, er ist in dieser Hinsicht ein Mann aus einer anderen Zeit: Er haut gern drauf und ist höchst empfindlich, wenn er kritisiert wird. Letzteres gilt aber im Übrigen auch für Politiker wie Robert Habeck, der jetzt im Fall Graichen von „Kampagne“ gesprochen hat. 

Patrick Graichen, ehemals Staatssekretär unter Robert Habeck, soll unter anderem seinem Trauzeugen einen wichtigen Posten zugeschustert haben…Gibt es so etwas wie Gnade im Politikbetrieb? Sind Medien, Wähler, Konkurrenten, Vorgesetzte bereit, zu vergeben?

Ich habe mich tatsächlich gefragt, warum Gnade und Vergebung in unserer Politik so wenig zum Tragen kommen, obwohl wir christlich-jüdisch geprägt sind und das sogar in unserem Grundgesetz Ausdruck findet. Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Kirche vieles auch nicht besser macht, blicken wir etwa auf die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche. Ich habe gemerkt: Es gibt Gnade in der Politik, aber weniger aufseiten der Politiker selbst und auch nicht unter den Journalisten, sondern eher in der Breite der Bevölkerung. Denen ist die Häme in der politischen Blase oft zu heftig, da höre ich oft: Jetzt ist doch mal gut, lasst die Menschen leben.   

Das klingt nach Medienkritik …

Ja. Es ist natürlich unsere Aufgabe als Journalisten, eine Wächterfunktion auszuüben und den Mächtigen auf die Finger zu schauen. Aber es gibt die Fälle, in denen Journalisten nicht mehr Maß halten und Kampagnen fahren. Politiker treffen Entscheidungen in der Regel nicht, weil sie bösartig oder dumm sind. Sondern weil sie Gründe dafür haben. Über die kann man streiten. Aber oft werden die Hintergründe nicht dargestellt, das schadet dem Diskurs. Andererseits machen es sich Politiker auch zu leicht, wenn sie jede Kritik als Kampagne abtun.

Die Rede war oft von einem neuen Politikertypus: Robert Habeck diente als Beispiel, einer, der nahbar wirkt, so spricht, dass jeder ihn verstehen kann. Nun sinkt ausgerechnet er im Wähleransehen ab. Ähnlich erging es einst Martin Schulz. Wollen wir überhaupt Politiker, die Menschen sind? Oder wünschen wir uns eigentlich eher unfehlbare Lichtgestalten, die es in Wahrheit natürlich nicht gibt?

Wir haben 16 Jahre Angela Merkel hinter uns und sind nun im zweiten Jahr Olaf Scholz. Beide sind Menschen, die scheinbar unendlich belastbar sind, nie über Gefühle sprechen, wenig nahbar sind. Es gibt also eine Widersprüchlichkeit in der Erwartungshaltung. Einerseits wünschen wir uns  „echte Menschen“, andererseits wählt die Mehrheit Politiker, die auftreten wie Mensch gewordene Präzisionsmaschinen . Bei Robert Habeck ist das tatsächlich sehr gut zu beobachten. Alle freuen sich darüber, dass er ohne Redemanuskript spricht. Aber wenn er sich verspricht, dann heißt es: Warum ist er so überheblich zu glauben, dass er kein Manuskript braucht? 

Foto: dtv
„Die Fehlbaren“ ist jüngst im Deutschen Taschenbuchverlag erschienen

Welche politische Persönlichkeit hat Sie hinsichtlich ihrer Fehlerkultur besonders beeindruckt?

Mich hat Annegret Kramp-Karrenbauer am Tag des Kriegsbeginns in der Ukraine beeindruckt. Sie twitterte: „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben.“ Und das als ehemalige Verteidigungsministerin, die die Russlandpolitik Deutschlands ja zeitweise mitverantwortet hat. Sie hat das sehr schnell erkannt und ausgesprochen. Andere haben Wochen gebraucht für eine selbstkritische Haltung zur eigenen Russlandpolitik, manche können bis heute keine Selbstkritik üben. 

Von wem sind Sie enttäuscht?

Viele Politiker konnten bei meinen Anfragen für das Buch überhaupt nichts mit dem Begriff Fehlerkultur anfangen. Das erscheint mir geradezu bizarr. So als gäbe es keine Fehler in der Politik. Oder als sei es naiv zu glauben, dass Politiker aus ihren Fehlern lernen könnten. Das Thema ist in der Politik offensichtlich noch nicht richtig angekommen. Da ist die Wirtschaft viel weiter. 

Margot Käßmann ist 2010 als Ratsvorsitzende der EKD zurückgetreten mit den Worten: „Ich kann niemals tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Das hat sie populärer gemacht als zuvor. Ist das ein Beispiel für gute Fehlerkultur?

Diese Worte gefallen mir sehr gut . Sie hat einerseits gesagt: Ich bin gefallen. Aber eben auch: Ich bin Gottes Geschöpf. Er lässt mich nicht alleine, er vergibt mir. Was für ein tröstendes Bild. Ein Gegenstück zu der Unerbittlichkeit, die wir in der Öffentlichkeit oft erleben. 

Frau Bubrowski, vielen Dank für das Gespräch!

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