„Unter Erdogan wird es keinen EU-Beitritt geben“

Recep Tayyip Erdogan bleibt türkischer Präsident. Er hat sich am Wochenende in der Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kilicdaroglu durchgesetzt. Was bedeutet das Wahlergebnis für die Christen im Land?
Von Johannes Blöcher-Weil
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan

PRO: Wie fällt die aktuelle Bilanz Erdogans im Blick auf die Menschenrechte aus?

Michael Bosch: Aus westlicher Perspektive wird Erdogan als populistischer Führer in Erinnerung bleiben, dessen Amtsführung immer autoritärer wurde. Die Achtung der Menschenrechte hat sich in seiner Präsidentschaft deutlich verschlechtert. Insbesondere seit dem mutmaßlichen Putsch 2016 gab es massive Einschränkungen bei der Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit.

Auch die kulturellen und religiösen Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten wurden eingeschränkt, aber diese Entwicklungen gab es auch schon vor seiner Amtsübernahme.

Was hätte ein Sieg des Herausforderers Kilicdaroglu bedeutet?

Kemal Kilicdaroglu warb mit einer integrativen Botschaft für sich und betonte seinen Wunsch, zu einem politischen System mit mehr Kontrolle und Ausgewogenheit zurückzukehren. Es ist klar, dass er die besten Aussichten für mehr Freiheit im Allgemeinen und für mehr Religionsfreiheit im Besonderen geboten hätte.

Der Herausforderer wäre der erste Alevit als Präsident gewesen. Was bedeutet es, dass er einer muslimischen Minderheit angehört?

Die Tatsache, dass er während seines Wahlkampfes offen darüber gesprochen hat, war bereits ein großer Schritt. Die Tatsache, dass er in der Stichwahl immer noch fast 48 Prozent der Stimmen erhielt, zeigt, dass Millionen von Türken eine andere Türkei wollen als die neo-osmanische Türkei, die Erdogan derzeit verkörpert. 

Michael Bosch, der aus Sicherheitsgründen einen Alias-Namen trägt, ist Persecution Analyst der Forschungsabteilung bei „Open Doors“, World Watch Research. Er hat auf die Fragen schriftlich geantwortet. Im jährlich erscheinenden Weltverfolgungsindex von „Open Doors“ liegt die Türkei auf Platz 41.

Können Christen ihren Glauben in dem Land aktuell frei ausleben?   

Es gibt für Christen und Kirchen klare Einschränkungen, wenn sie Gotteshäuser erwerben oder Geistliche religiös ausbilden möchten.

Der Übertritt vom Islam zum Christentum ist in der Türkei nicht verboten. Im Gegensatz zu vielen muslimisch geprägten Nachbarländern könnten Türken ihre Religionszugehörigkeit ändern. Oft sind es eher die Familie oder das Umfeld und weniger die türkische Regierung, die es den Menschen erschweren, als Christ zu leben.

Die Türkei ist ein sehr vielfältiges Land. Deswegen können die Erfahrungen hier sehr unterschiedlich sein. Die bereits erwähnten Einschränkungen machen es Christen aber schwer, ihren Glauben in dem Land auszuleben.

Seit 2018 wurde es etwa 80 meist westlichen Christen verboten, in das Land einzureisen. Das kann man als klaren Versuch der Regierung werten, die türkischen Christen zu minimieren, da viele von ihnen eine aktive Rolle in den türkischen protestantischen Kirchen spielten. 

Hat die Unterdrückung ethnischer oder religiöser Minderheiten im Wahlkampf eine Rolle gespielt?

Im Mittelpunkt des Wahlkampfs stand vor allem die Abschiebung von Millionen von Flüchtlingen im Land. Leider begann sogar der Herausforderer nach seiner Niederlage im ersten Durchgang, die Minderheiten ins Visier zu nehmen, um offensichtlich nationalistische Wähler zu gewinnen. Für die meisten türkischen Wähler ist der Status ethnischer und religiöser Minderheiten kein großes Thema.

Die Opposition fordert mehr Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Wie realistisch ist das?

Erdogan wird seinen knappen Sieg als Mandat betrachten, seinen derzeitigen autoritären Kurs fortzusetzen. Das wird höchstwahrscheinlich bedeuten, dass wir noch mehr Einschränkungen der politischen Freiheit erleben werden. Das ist eine schlechte Nachricht für alle, die seine Regierung aus der Perspektive der Menschenrechte kritisieren wollen. 

„Seit 2018 wurde es etwa 80 meist westlichen Christen verboten, in das Land einzureisen.“

Wie frei waren die Wahlen wirklich?

Mehr als 90 Prozent der türkischen Medien werden von Erdogans AK-Partei beherrscht und kontrolliert, während andere Medien stark eingeschränkt arbeiten müssen. Hinzu kommen strenge Beschränkungen im Internet, indem Internetseiten der Opposition gesperrt werden oder es nicht erlaubt ist, den Präsidenten zu beleidigen. Das hat es der Opposition erschwert, sich Gehör zu verschaffen. Trotz anderslautender Stimmen aus der Opposition scheint es aber bei den Wahlen keine Unregelmäßigkeiten gegeben zu haben. 

Inwieweit prägen die Ereignisse rund um das Erdbeben das Land noch immer?

Das Erdbeben war sicherlich ein Thema bei den Wahlen, aber letztlich ging es bei der Entscheidung, wen ich wähle, eher um die nationale Identität. Das zeigt auch die große Unterstützung Erdoğans in den Gebieten, die von den Erdbeben massiv betroffen waren. 

Was bedeutet die politische Lage im Land für den möglichen EU-Beitritt der Türkei?

Trotz aller Glückwünsche von EU-Spitzenpolitikern wird dies unter Erdoğan nicht geschehen. Erdoğan konzentriert sich auf die muslimische Welt, nicht auf die westliche Welt. 

Hat sich die AKP während des Wahlkampfs gegenüber Christen und anderen Minderheiten repressiver verhalten?

Nicht direkt, aber Verschwörungstheorien und Behauptungen über eine westliche Einflussnahme auf die Wahlen wurden von der Erdoğan-Fraktion immer wieder gestreut. Das Christentum wird als Teil des westlichen Einflusses betrachtet, was ein schlechtes Licht auf die gesellschaftliche Stellung der Christen in der Türkei wirft.

Vielen Dank!

Michael Bosch, der aus Sicherheitsgründen einen Alias-Namen trägt, ist Persecution Analyst der Forschungsabteilung bei „Open Doors“, World Watch Research. Er hat auf die Fragen schriftlich geantwortet. Im jährlich erscheinenden Weltverfolgungsindex von „Open Doors“ liegt die Türkei auf Platz 41.

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