Meinung

Sterbehilfe: Gerichtlich verordnete Liberalisierung

Karlsruhe zwingt die Politik zu einer Liberalisierung der Suizidbeihilfe. Das zeigt nicht nur der Gesetzesentwurf zahlreicher kirchennaher Politiker. Deutschland steht vor einem Paradigmenwechsel beim Thema Sterben.
Von Anna Lutz
Über den assistierten Suizid ist unter Theologen eine neue Debatte entbrannt

Im Februar 2020 hat es geknallt. Und zwar laut. Das Bundesverfassungsgericht verkündete folgendes Urteil:

„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (…) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.“

Das klingt fast beiläufig, doch es stellt Politiker bis heute vor ungeahnte Herausforderungen. Bis 2020 war Deutschland – auch geschichtlich bedingt – nicht gerade ein Vorreiter in Sachen liberaler Sterbehilfe.

Während in Nachbarländern wie der Schweiz, Belgien oder den Niederlanden bereits Vereine dafür sorgten, dass Menschen gegen einen finanziellen Beitrag zum gewünschten Zeitpunkt aus dem Leben scheiden durften, nach und nach aktive Sterbehilfe legalisiert wurde und zuletzt sogar der ärztlich assistierte Suizid bei todkranken Babys erlaubt war, beschäftigte sich Deutschland lange mit einem Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe, also der Sterbehilfevereine.

Für Mediziner war die schließlich verabschiedete Regelung wenig befriedigend, sie blieben bei einmaliger Suizidbeihilfe straffrei, bei mehrmaliger wurde es kompliziert.

Dann kam der Knall.

Das höchste Gericht forderte überraschend nicht weniger als einen Paradigmenwechsel: Jeder Volljährige, egal ob mit medizinischer Indikation oder ohne, soll künftig so sterben dürfen, wie er es wünscht. Und darüber hinaus darf er dafür die Hilfe Dritter in Anspruch nehmen. Ein Land, das geübt ist, sich in Sachen Sterben bedeckt zu halten, muss plötzlich Farbe bekennen.

Sterbehilfe: Kein Zurück in Sachen Suizid

Das heißt: Es gibt kein Zurück mehr in Sachen Suizid. Es gibt nur noch den Weg der Liberalisierung.

Drei Gesetzesentwürfe zum Thema sind bereits öffentlich. Der zurückhaltendste stammt von einer Gruppe Parlamentarier, deren Schnittmenge mit kirchlich Engagierten auffällig ist. Die kirchenpolitischen Sprecher Konstantin von Notz (Grüne), Thomas Rachel (CDU), Lars Castellucci (SPD) sowie ehemalige Inhaber des Amtes wie Kerstin Griese (SPD) oder Hermann Gröhe (CDU) unterstützen einen Vorschlag, der nur sehr wenige Voraussetzungen für die assistierte Selbsttötung kennt. Wer Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, muss demnach volljährig sein, sich von einem Arzt beraten lassen und darf nachgewiesenermaßen keine „beeinträchtigenden“ psychischen Erkrankungen haben (lesen Sie hier unsere Zusammenfassung).

Da ist kein Wort von einer notwendigen schweren oder gar todbringenden Erkrankung der suizidwilligen Person. Kein Wort von unerträglichem Leiden. Oder von Altersgrenzen, sieht man mal von der grundgesetzlich abgeleiteten Volljährigkeit ab.

Die Abgeordneten, die diesen Gesetzesentwurf nun veröffentlichten, setzten sich zu großen Teilen noch 2015 für das schließlich verabschiedete Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe ein. Sie sind also keineswegs die Vorreiter einer neuen Sterbeavantgarde.

Dann wurde das Gesetz der kirchennahen Abgeordneten, die durch die Arbeit von Sterbehilfevereinen, die unantastbare Würde des Lebens bedroht sahen, 2020 vom Bundesverfassungsgericht gekippt. Eine Neuregelung wurde notwendig, der neue Entwurf liegt nun vor. Er macht offenbar, wie sehr den Abgeordneten heute die Hände gebunden sind.

„Erhebliche Missbrauchsgefahren“

Es ist die Rede von „erheblichen Missbrauchsgefahren“, vom „hohen Rechtsgut Leben“ und der „Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen“. Sehr viel deutlicher noch sprach das Gesetz von 2015 diese Sprache: „Durch die zunehmende Verbreitung des assistierten Suizids könnte der ‚fatale Anschein einer Normalität‘ und einer gewissen gesellschaftlichen Adäquanz, schlimmstenfalls sogar der sozialen Gebotenheit der Selbsttötung entstehen und damit auch Menschen zur Selbsttötung verleitet werden, die dies ohne ein solches Angebot nicht täten“, hieß es damals.

Die Sorge ist geblieben. Doch die Möglichkeiten, einer Liberalisierung entgegenzuwirken, sind geschwunden. Das Bundesverfassungsgericht macht es der Politik unmöglich. In einem Interview mit PRO aus dem Sommer des vergangenen Jahres bezeichnete der Ethiker und Theologe Jean-Pierre Wills das Urteil von 2020 als „schockierend liberal“ sogar im internationalen Vergleich.

„Der Suizid wird heute als Akt der Freiheit wahrgenommen, nicht mehr als Verzweiflungstat. Suizid und auch die Beihilfe dazu sind nicht mehr tragisch. Er ist eine emanzipatorische Selbsttechnik“, stellte er fest. Das ist der Weg, den die Bundesrepublik nun beschreiten muss.

Nicht von allen gewollt, aber gerichtlich garantiert.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

4 Antworten

  1. Man muss sich fragen, ob das Bundesverfassungsgericht selbst noch auf dem Boden der Verfassung steht, wenn der Begriff der „Würde“ derart umgedeutet wird, dass damit Tötung von Menschen gedeckt werden soll.
    Diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts entspricht mit Sicherheit nicht der Intention der Väter des Grundgesetzes.
    Wer aber schützt die Menschlichkeit, wenn diese sogar den obersten Richtern abhanden gekommen ist?

    2
    5
  2. Das Bundesverfassungsgericht hat betont, die Würde des Menschen sei tatsächlich unantastbar – auch nicht durch die Moralvorstellungen irgendwelcher Weltvorstellungen oder gar des Staates. Zurecht so. Was ein Bürger, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, mit seinem Körper macht, ist seine höchstpersönliche Sache. Er kann sich totsaufen, bewusst vor ein Auto laufen, vor einen Zug springen oder sich von einem Dritten beim Sterben helfen lassen. Frage an alle Kritiker, was davon ist würdevoller – geschweige denn friedvoller?
    Oder ist es moralisch wertvoller, einen Menschen gegen seinen Willen, über Monate oder gar Jahre hinweg gnadenlos leiden zu lassen? Menschen wollen leben, auch wenn es bisweilen schwer fällt, aber sie wollen nicht leiden, nur weil es für das „gute Gewissen“ nichtleidender Moralisten gut ist. Das hat das BVerfG im Febr. 2020 sehr gut erkannt. Dies zurückdrehen zu wollen, wie es ein Gruppe strenggläubiger MdBs jetzt vorgeschlagen hat, hieße, die Menschen einer grundlegenden Freiheit zu berauben.

    4
    1
  3. „… zuletzt sogar der ärztlich assistierte Suizid bei todkranken Babys erlaubt war …“

    Setzt Suizid nicht Selbstbeteiligung oder den eigenen Wunsch voraus? Die Tötung von Babys wird Infantizid genannt. Auch der Ethiker Peter Singer, der die Tötung von Neugeborenen und Babys unter Umständen befürwortet, spricht von Infantizid.
    Ich denke, dass hier eine kritische Überprüfung der Wortwahl nötig ist.

    0
    2
  4. „Was ein Bürger, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, mit seinem Körper macht, ist seine höchstpersönliche Sache. “
    Ich hätte da mal eine Frage: Gilt das auch für die Entscheidung bei der Coronaimpfung??

    0
    5

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen