Meinung

Sollte aktive Sterbehilfe wirklich immer strafbar sein?

Die Frage nach Sterbehilfe kann jeden treffen, zeigt Markus Thiele mit seinem Buch „Die sieben Schalen des Zorns“. Einfühlsam, spannend und mit dem nötigen Tiefgang verpackt der Autor das heiß diskutierte Thema in einen lesenswerten Roman.
Von Swanhild Brenneke

„Ist die aktive Sterbehilfe – ganz gleich, wie der Einzelfall gelagert ist – stets und immer strafbar? Oder kann es Situationen geben, die das Handeln des Arztes rechtfertigen?“, fragt Staatsanwalt Jonas van Loon. Er nennt das Beispiel eines Querschnittsgelähmten, der nicht imstande ist, eigenständig Nahrung zum Mund zu führen, und eines Tages sterben möchte.

„Der Arzt, der ihm diese Medikamente beschafft, darf sie ihm nur zur Verfügung stellen, er darf sie ihm nicht verabreichen.“ Ein nicht-querschnittsgelähmter Mensch könne diese Medikamente selbständig einnehmen, sein Sterbewunsch werde erfüllt. „Der eine kommt also in den Genuss des frei gewählten Suizids, während es dem anderen – nur, weil er noch mehr eingeschränkt ist – verwehrt bleibt. Ist das gerecht?“, fragt van Loon.

Diese Szene stammt aus dem Buch „Die sieben Schalen des Zorns“ von Markus Thiele. Der Roman setzt sich mit dem Thema Sterbehilfe auseinander. Auf gewinnende Weise erklärt Thiele durch die Geschichte und deren Protagonisten die aktuelle Debatte zum Thema mit ihren verschiedenen Standpunkten und Facetten. Der Laie weiß nach der Lektüre des Buches, worum es geht, wenn in den Medien mal wieder zu lesen ist, dass Politiker, Ethiker und Juristen über die Frage nach der Sterbehilfe-Regelung in Deutschland diskutieren.

Allgemeinmediziner gegen Staatsanwalt

Worum geht es in „Die sieben Schalen des Zorns“ genau und warum ein Titel, dessen Begrifflichkeiten aus der Johannes-Offenbarung stammen?

Hauptpersonen im Roman sind der Allgemeinmediziner Max Keller und der Staatsanwalt Jonas van Loon. Beide befinden sich (vermutlich) in ihren Fünfzigern und sind seit der Schulzeit befreundet. Keller leistet seiner Tante Maria Linz, die sich im Endstadium einer Demenzerkrankung befindet, Sterbehilfe. Linz hat ihren Willen dazu rechtlich verfügt, als sie noch bei klarem Verstand war. Keller wuchs bei Linz auf, nachdem das Jugendamt ihn Anfang der Achtziger von seinem alkoholkranken Vater weggeholt hatte. Keller und van Loon lernten sich in ihrer Jugend im Internat kennen und sind seit ihrer Studienzeit einander eng verbunden.

Die Staatsanwaltschaft klagt Keller wegen möglicher Beihilfe zum Suizid von Maria Linz an. Denn es ist zunächst nicht klar, ob Linz noch in der Lage war, die tödlichen Medikamente selbst einzunehmen oder ob Keller sie ihr eingeflößt hat. Das ist in Deutschland verboten. Die passive Sterbehilfe, also das reine Zurverfügungstellen der Medikamente durch einen Arzt, ist erlaubt. Keller sucht Hilfe bei van Loon, der den Fall übernimmt. Seine Befangenheit verschweigt er dem Gericht und den Kollegen.

„Vielleicht haben Sie und ich einen Fehler gemacht.“

Besonders im zweiten Teil des Buches, der die verschiedenen Verhandlungstage vor Gericht erzählt, werden die unterschiedlichen Positionen beim Thema Sterbehilfe deutlich. Van Loon muss und möchte sich als Jurist an das Gesetz halten, kann aber auch Kellers Beweggründe nachvollziehen, warum er Linz‘ Todeswunsch erfüllt hat. Van Loons innere Zerrissenheit kommt besonders gut bei einem Gepräch mit seinem alten Doktorvater Professor Reben heraus. „Wenn Sie mich fragen, ob Max eine Strafe verdient hat für seine Handlungen, dann sage ich Ihnen, dass ich mir einen Arzt wie ihn wünschen würde, wenn es bei mir eines Tages so weit ist“, antwortet der Professor auf van Loons Fragen.

Keller habe aber wahrscheinlich einen Mord begangen, weil es sehr unwahrscheinlich sei, dass die alte Maria Linz die todbringenden Medikamente selbst eingenommen habe, sagt van Loon. Das sei juristisch wohl korrekt, antwortet Reben. „Aber was geschieht, wenn wir die Sache anders angehen? Dann hat er die Frau vor einem qualvollen Tod bewahrt – so, wie sie es sich gewünscht hat. Sollte er dafür wirklich bestraft werden?“ Später fügt der Doktorvater hinzu: „Vielleicht haben Sie und ich einen Fehler gemacht mit unseren Überzeugungen.“

Alkoholiker-Vater und ein schlimmer Unfall

Elegant gelöst hat Thiele auch die Aufgabe, dem Leser die derzeit geltende Rechtslage in Deutschland zur Sterbehilfe zu vermitteln. Er erfährt es zum Beispiel zu Beginn des Buches durch Gespräche zwischen Keller und van Loon. Auch im weiteren Verlauf wird die Rechtslage durch Zwiegespräche zwischen zwei Personen erklärt. Die Fakten wirken dadurch alles andere als trocken.

Schön sind auch die Kapitel mit den Zeitsprüngen in die Vergangenheit, die van Loons und Kellers Werdegang und Geschichte miteinander erklären. Die enge Beziehung zu Maria Linz wird dadurch deutlich. Auch Kellers liberaler Standpunkt zum Thema Sterbehilfe lässt sich anhand seines schicksalshaften Lebens nachvollziehen. Nicht nur, dass er bei einem alkoholkranken Vater aufwuchs und seine Großmutter, die zunächst für ihn sorgte, früh verlor. Als junger Arzt verlor er durch ein Zugunglück auch die Liebe seines Lebens, Michelle, und seine kleine Tochter.

„Was ist, wenn wir das Leidern verkleinern oder vielleicht ganz verhindern können?“

Am Rande des Buches spielen auch der Glaube und die Sterbehilfe aus christlich-ethischer Sicht eine Rolle. Verkörpert wird das durch Georg Wallner, einen Bekannten von Maria Linz und gläubigen Christen. Als Keller in Untersuchungshaft sitzt, besucht Wallner ihn. Beide diskutieren darüber, warum Gott dem Menschen Leid zufügt und ob es nicht richtig sei, eigenes Leiden beenden zu dürfen, wenn Gott doch eigentlich ein guter Gott sei.

„Der Allmächtige lässt unendlich viel Leid auf der Welt zu. […] Was ist, wenn wir das Leiden verkleinern oder vielleicht ganz verhindern können? Sehen wir trotzdem tatenlos zu?“, fragt Keller den alten Wallner. Der antwortet, der Kolosser-Brief erkläre die Autorität des Schöpfers über Leben und Tod. Auch andere Bibelstellen, zum Beispiel in den Psalmen zeigten: „Vor Gottes Angesicht gibt es keinen Freitod.“

Das Gespräch macht Kellers Zerrissenheit deutlich und er äußert Unverständnis darüber, dass Gott ihm selbst und anderen Menschen so viel Leid zumutet. Am Ende des Buches erschließt sich dann auch der Titel des Romans. Im Gespräch mit einem Pfarrer sagt Keller: „Sieben Schalen, Herr Pfarrer, Gott hat sieben Schalen mit seinen Zorn gefüllt. Und sein Zorn gilt mir.“ Er zählt auf, dass Gott seiner Meinung nach bereits sechs Zornesschalen über sein Leben ausgegossen habe. Die siebte Schale sei, dass er mit seinem eigenen Leid leben müsse: „Gott lässt mich leiden. Er quält mich. Er straft mich nicht mit meinem eigenen Tod, das wäre viel zu einfach. Er straft mich mit meinem Leben.“

Der Pfarrer versucht Keller vom Gegenteil zu überzeugen: „Gott ist ein Menschenfreund“, sagt er. Auch wenn er Keller viel Schmerz und Kummer zugemutet habe.

„Die sieben Schalen des Zorns“ ist ein spannender und fesselnder Roman, zeitweise trägt er sogar die Züge eines Krimis. Als Leser beginnt man unbewusst, sich selbst mit dem Thema Sterbehilfe auseinander zu setzen, weil es durch die Protagonisten so anschaulich und nah erscheint. Und der Ausgang der Geschichte bietet am Ende eine Überraschung. Ein wirklich lohnender Roman mit Tiefgang.

Markus Thiele: „Die sieben Schalen des Zorns“, 400 Seiten, Benevento, 22 Euro, ISBN 139783710901317

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