Meinung

Religiösen Machtmissbrauch erkennen und ihm wehren

Missbrauch von Macht ist ein Phänomen, das sich neben der Gesellschaft auch im christlichen Bereich breit macht. Ein Buch der Theologin Martina Kessler sensibilisiert christliche Leiter für das schwierige Thema und gibt Hilfestellung.
Von Norbert Schäfer
Machtmissbrauch verhindern

Wer leitet, hat Macht. Wer in der Gesellschaft, der Politik oder dem Unternehmen etwas bewegen möchte, braucht auch Macht. Aber Menschen dürfen nicht zu etwas gedrängt werden, was sie von sich aus nicht möchten oder tun würden. Wenn drängende Menschen durch ihr Tun einen Vorteil gewinnen und dabei persönliche Grenzen anderer überschreiten, wird Macht missbraucht. Missbräuchlicher Gebrauch von Macht findet sich leider auch dort, wo eigentlich besonders hohe ethische Maßstäbe gelten: In christlichen Gemeinschaften und Organisationen.

In dem Buch „Religiösen Machtmissbrauch verhindern“, erschienen im Brunnen-Verlag, richtet sich Herausgeberin und Autorin Martina Kessler in erster Linie an Verantwortliche in christlichen Organisationen und Gemeinschaften und will sie für das Thema sensibilisieren. Mit Worten der Herausgeberin liegt religiöser Machtmissbrauch immer dann vor, „wenn Menschen zu etwas gedrängt werden, was sie von sich aus nicht tun würden, und die drängende Person davon einen Vorteil hat“. Dabei werden persönliche Grenzen der missbrauchten Menschen übertreten und verletzt.

Religiöser Missbrauch erfolgt meist subtil

Formen des religiösen Missbrauchs können nach Einschätzung Kesslers „sowohl in der Struktur als auch in der Theologie einer Gemeinde oder Organisation verankert sein“. Der Missbrauch geschehe meist subtil. „Zu beachten sind hier besonders die Gruppen und Gemeinschaften, in denen Leitungspersonen den ‚Mitgliedern‘ beim Einstieg in die Gemeinschaft zwar einen Katalog an Erwartungen vorlegen (der oft auch unterschrieben werden muss), aber diesen Menschen keine Mitspracherechte zugestanden werden und in denen es keine demokratischen Strukturen gibt“, warnt Kessler, die als Studienleiterin bei der Stiftung Therapeutische Seelsorge arbeitet und sich seit rund 20 Jahren mit Macht und Machtmissbrauch beschäftigt. Die Autorin ist zudem Clearingbeauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA) zu diesem Thema.

„Zu beachten sind hier besonders die Gruppen und Gemeinschaften, in denen Leitungspersonen den ‚Mitgliedern‘ beim Einstieg in die Gemeinschaft zwar einen Katalog an Erwartungen vorlegen (der oft auch unterschrieben werden muss), aber diesen Menschen keine Mitspracherechte zugestanden werden und in denen es keine demokratischen Strukturen gibt.“

In seinem Vorwort zum Buch „Religiösen Machtmissbrauch verhindern“ schreibt der Vorsitzende der Weltweiten Evangelischen Allianz, Thomas Schirrmacher, deshalb: „Jesus selbst ist der Gegenentwurf zum Machtmissbrauch. Er hat seine Macht nicht zu seinem Vorteil genutzt, sondern damit wir völlig frei werden. Er verband nämlich Autorität mit Dienen und Demut.“ Das Buch beschreibt daher in in vier Teilen auf insgesamt 256 Seiten, was das Wesen von Macht und ihren Missbrauch ausmacht, wie dienende Leitung aus biblischer Sicht aussieht, wie lernende Organisationen Missbrauch vorbeugen können und wirft dabei einen generellen Blick auf Gemeinden und deren Leitungen.

Kessler und die neun weiteren Autoren, darunter unter anderem Tobias Faix, Angelika Marsch, Andreas Klotz, Ansgar Hörsting und Heinrich Christian Rust, wollen den Leser dafür sensibilisieren, die Grenze zwischen Macht und Machtmissbrauch zur erkennen und dazu ertüchtigen, religiös motiviertem Machtmissbrauch entgegenzutreten. „Denn schon ein einzelnes Wort oder eine Handlung kann aus Macht Missbrauch werden lassen“, sagt Kessler.

Autoren mit Leitungserfahrung

Tobias Faix zeigt in seinem Beitrag, dass mündiger Glaube religiösem Machtmissbrauch vorbeugen kann, indem er gegensätzliche Haltungen reflektiert und ungesunde Machtstrukturen erkennt. Volker Kessler geht auf die Frage ein, wie biblisch-theologisch begründeter Gehorsam überhaupt aussehen kann und was guten von schlechtem Gehorsam unterscheidet. Angelika Marsch bricht in ihrem Beitrag eine Lanze für Transparenz in christlichen Organisationen und Gemeinden. Transparenz von Prozessen und Entscheidungen soll Führungskräften dabei helfen, Missbrauch zu vermeiden.

Andreas Klotz legt in seinem Kapitel Zusammenhänge zwischen religiösem Machtmissbrauch und manipulativer Kommunikation offen. Klotz plädiert für offene Kommunikation. Die Herausgeberin selbst stellt in ihrem Beitrag fest, dass die Bibel Kritikfähigkeit fordert und daher Kritik an Leitern generell erlaubt ist in Gemeinden und Kirchen. Kessler erklärt Arten der Kritik und appelliert, eine konstruktive Feedbackkultur aufzubauen. Florian Köpke beleuchtet die Frage, wie Leitende durch eigenes Lernen zur Resilienz gegen Missbrauch innhalb einer Organisation beitragen können. Rolf Gerstdorf beschreibt Aspekte fachlicher und geistlicher Begleitung von Leitung. Dazu gehört ein Fragenkatalog für Leiter und zugrundeliegende Systeme.

Hans-Günther Schmidts beschreibt die Gratwanderung zwischen Einmischung und verantwortungsvollem Handeln bei Leitern. Ansgar Hörsting beschreibt typische Einfallstore von religiösem Machtmissbrauch in Organisationen. Heinrich Rust weist in seinem Beitrag darauf hin, dass von Gemeinden – also dem „Gemeindevolk“ – als Ganzem Macht ausgehen kann und diese nicht auf Leitungsverantwortliche beschränkt ist.

Die Autorinnen und Autoren des Buchs stehen in leitender Verantwortung in christlichen Gemeinden und Werken, die zum Netzwerk der Evangelischen Allianz gehören. Sie vertiefen und erweitern mit dem vorgelegten Buch auch einen Flyer unter dem Titel „… seid ein Vorbild für die Herde“ der Deutschen Evangelischen Allianz (DEA). Darin zeigt die DEA Hilfen, damit religiöser Machtmissbrauch in Gemeinden, Werken und von Leiterinnen und Leitern überhaupt erkannt werden kann.

Die Autoren erteilen religiös motiviertem Machtmissbrauch eine klare Absage. In den Kapiteln beleuchten die Autoren das leidige Phänomen aus unterschiedlichen Blickwinkeln und offerieren in erster Linie Führungskräften christlicher Organisation und Gemeinden Anknüpfungspunkte, eigenes Handeln und zugrundeliegende Strukturen auf Anfälligkeit oder Symptome, die auf religiös motivierten Missbrauch hindeuten, zu überprüfen und zu reflektieren.

Besonders interessant sind die Beiträge über Kommunikation und Kritikfähigkeit. Der Beitrag von Heinrich Christian Rust über Machtmissbrauch „von unten“, ausgehend vom „Gemeindevolk“, eröffnet sehr interessante Perspektiven und gibt Gedankenanstöße. Das Buch ist aufschlussreich und sensibilisiert Leser, Augen und Ohren im Kontext christlicher Gemeinden für den Missbrauch von Macht offen zu halten.

Weil der religiös motivierte Machtmissbrauch in Gemeinden, wie die Herausgeberin sagt, „meist subtil“ daherkommt, wären mehr konkrete Beispiele wünschenswert gewesen, um das Gespür für die Problematik an konkreten Fällen zu schärfen. Im Buch sind die einzelnen Beiträge direkt mit Quellenangaben versehen. Das erleichtert den Einstieg in die tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema. Das Buch ist gut gegliedert, die Beiträge sind verständlich. Das ist erfreulich. Beim Thema Seelsorge und Machtmissbrauch hätte sich eine tiefere Auseinandersetzung gelohnt. Das Buch ist insgesamt geeignet, Leitungsverantwortliche in christlichen Gemeinden und Werken für ein schwieriges und gerne übersehenes und zudem leidiges Thema zu sensibilisieren – und deshalb empfehlenswert.

Martina Kessler (Hrsg.): „Religiösen Machtmissbrauch verhindern“, Brunnen-Verlag, 256 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-7655-2117-1

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3 Antworten

  1. Fragt sich jetzt nur: „Wie bringt man Leitende dazu, dieses Buch zu lesen?“

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  2. Das Buch ist eigentlich unnötig.
    Es wäre besser die Christen nähmen wieder die Bibel zur Hand, und lassen sich von den Worten der ersten Christen leiten.

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    1. Was bleibt uns anderes, als dem Geist zu folgen, eben so, wie es der Bibel zu entnehmen ist? Damit nicht jeder auf sich gestellt ist, hilft uns erklärende Literatur, wie sie oben besprochenen ist. Gott sei Dank!
      Ich verstehe unseren Auftrag in der sich rasant verändernden Welt jedenfalls nicht darin, mich hinter geistlichen Kirchenmauern zu verschanzen.
      Gibt es sie überhaupt, „die ersten Christen“? Oder sind Matthäus oder Markus oder Lukas oder Johannes oder der Gemeindegründer Paulus gemeint? Wenn die Bibel tatsächlich das „lebendige“ Wort Gottes ist, spricht sie mich heute als Mensch und uns, die Gemeinde des Jahres 2021 an. Leider haben sich in den Jahrzehnten nach Kriegsende noch nicht alle Gemeinden damit vertraut gemacht, Führungsstile in Leitungsstile zu zu überführen.

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