US-Wahlen: Die Spaltung geht tiefer als befürchtet

Am Morgen nach der US-Präsidentschaftswahl gibt es noch keinen klaren Sieger. Das zeigt, dass der Riss in der Gesellschaft tiefer ist, als von vielen befürchtet. Er reicht auch quer durch die evangelikale Christenheit. Sie muss sich jetzt zusammenraufen – und dringend ihr Verhältnis zur Macht klären. Ein Leitartikel von Nicolai Franz
Von Nicolai Franz
Sie bewerben sich um das Präsidentenamt: Joe Biden und Donald Trump

Am 3. November, dem Tag der Präsidentschaftswahlen in den USA, hatten die meisten Beobachter und amerikanischen Medien noch mit einem Sieg des Demokraten Joe Biden gerechnet. Doch je später es wurde, desto mehr zeichnete sich ab, dass Biden von einem deutlichen Sieg sehr weit entfernt ist. Manches erinnerte an den Überraschungserfolg von 2016, als Donald Trump entgegen der Mehrzahl der Meinungsforscher einen Sieg einfahren konnte.

Der republikanische Amtsinhaber ergatterte bei der diesjährigen Wahl die riesigen Staaten Florida und Texas, wenn auch nicht so deutlich wie einst. Hätte Biden einen dieser Staaten gewonnen, hätte Trump wohl schon einmal seine Koffer packen können. Stattdessen ist eingetreten, was in den vergangenen Tagen auch immer wieder geäußert worden ist: Das Rennen könnte so knapp ausgehen, dass sich die Verkündigung des offiziellen Ergebnisses noch Tage hinziehen könnte.

Das gilt vor allem für den so wichtigen „Swing State“ Pennsylvania. Die Briefwahlstimmen werden dort erst nach Schließung der Wahllokale ausgezählt. Zwar liegt Trump dort aktuell vorne, doch es ist wahrscheinlich, dass die meisten Briefwähler zu Biden tendieren. Trump rief sich trotzdem schon mal zum Sieger aus und kündigte an, die weitere Auszählung der Stimmen gerichtlich stoppen zu lassen. Würde er sich durchsetzen, könnte eintreten, was politischen Beobachtern die größten Kopfschmerzen bereitet: Dass am Ende Trump zum Sieger in Staaten ausgerufen wird, in denen er nicht die meisten Stimmen für sich verbuchen konnte.

Zwei Ergebnisse stehen schon jetzt fest. Das erste ist, dass die Umfrageinstitute in den wahlentscheidenden „Swing States“ zwar etwas genauer waren als 2016, dass sie trotz Corona und einem hohen Anteil an Briefwählern sowie einer starken Mobilisierung vieler Wählerschichten den Demokraten Biden allerdings höher handelten, als es der Realität entsprach. Die Möglichkeit eines Trump-Siegs lag allerdings auch in den Umfragen weiterhin im Bereich der Fehlertoleranz.

Verbarrikadierte Läden

Das zweite Ergebnis: Am Wahltag ist nicht der erhoffte Friede in der Gesellschaft eingetreten. Hätte Biden mit einem Erdrutschsieg gewonnen, hätten die TV-Sender, die Agenturen und das republikanische Establishment den Sieg Bidens öffentlich ausgerufen beziehungsweise die Niederlage Trumps eingestanden, hätte auch ein Donald Trump sich dagegen nicht wehren können. Nun aber droht sich der tiefe Riss in der Gesellschaft noch weiter zu vertiefen, wenn das Wahlergebnis am Ende sogar Fragezeichen ob der demokratischen Legitimität hinterlassen sollte. Denn Trump und seine Heerscharen von Anwälten werden nichts unversucht lassen, jeden Schlupfwinkel zu nutzen, der sich ergibt. Selbst Gewalt auf den Straßen scheint nicht ausgeschlossen. In der Hauptstadt Washington, D.C., verbarrikadierten Ladeninhaber schon vor Tagen ihre Geschäfte mit Sperrholzplatten. Gewaltausbrüche nach einer Wahl? Das kennt man von Diktaturen, aber nicht aus dem Land, das seit 230 Jahren trotz aller Krisen stolz ist auf den „peaceful transfer of power“.

Der tiefe Riss zieht sich auch quer durch die evangelikale Christenheit. Sie tendiert weiterhin mehrheitlich zu Trump, doch jüngst mehrten sich Anzeichen, dass die Geduld einiger Evangelikaler mit ihm ein Ende hat. Einer der einflussreichsten konservativen Evangelikalen, John Piper, ermahnte die Christen etwa, sich bei ihrer Wahlentscheidung nicht nur auf die Haltung der Kandidaten zur Abtreibung zu beziehen. Christen sollten aufstehen gegen die „kulturinfizierende Ausbreitung der Brandwunde sündhafter Selbst-Überhöhung und Prahlerei und Streitsucht“. Pipers Aussagen führten zu empörten Gegenreaktionen, andere Evangelikale wie der Bonhoeffer-Biograph Eric Metaxas hingegen stehen weiter zum Präsidenten.

Der Duktus vieler frommer Unterstützer des Präsidenten: Trumps verbale Ausfälle seien schlecht, seine Politik aber gut. Bei Biden argumentieren sie im Umkehrschluss, zwar könne er sich in seinen Auftritten beherrschen, seine Politik empfinden Viele aber als antichristlich, etwa wenn es um den Schutz ungeborenen Lebens geht. Am Ende müssten Taten mehr gelten als Worte.

Evangelikale sind gespalten, tendieren aber zu Trump

Die Spaltung der Christenheit beschäftigt auch das mediale Flaggschiff der Evangelikalen, Christianity Today (CT). Deren Ex-Chefredakteur Mark Galli hatte während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump im Dezember vorigen Jahres noch zur Absetzung des Präsidenten aufgerufen. Timothy Dalrymple, CEO und Präsident von CT, hingegen schlug versöhnlichere Töne an. Ihn hatte es nachdenklich gemacht, dass es nach Gallis Aufruf gegen Trump enorm viele Leserreaktionen gab, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Die einen waren entsetzt, dass ein evangelikales Magazin einen Präsidenten angreift, der doch so offensichtlich christlich und im Sinne der Kirche regiere, wenn es um Lebensschutz und Religionsfreiheit gehe. Die anderen dankten Galli für seine Geradlinigkeit, dass endlich jemand den ethischen Zwiespalt, den sie in der evangelikalen Unterstützung Trumps sahen, aufgegriffen hat: „Sie riefen an und weinten am Telefon“, berichtete Dalrymple.

Dalyrmple versuchte die politische Spaltung der Evangelikalen in seinem langen Text im Vorfeld zur Wahl mit zwei Begriffen zu erklären. Es gebe die „Church Regnant“, die „regierende Kirche“, und die „Church Remnant“, den kirchlichen Rest oder das kirchliche Überbleibsel. Anhänger der Church Regnant legten Wert darauf, dass christliche Werte sich in politischer Macht niederschlügen. Die Church Regnant ist die größere Gruppe: 58 Prozent hatten 2016 für Trump gestimmt. Die Church Remnant unterscheide sich vor allem darin, dass deren Anhänger viel weniger Wert auf politische Macht als auf ethische Integrität legen. Es geht ihren Vertretern am Ende also nicht ausschließlich um die immer wieder zitierten Lieblingsthemen der Evangelikalen: Abtreibung, Widerstand gegen „Sozialismus“ und eine konservative Besetzung des Supreme Courts. Vielmehr zählt für einige Evangelikale auch die Frage, ob sie mit einem politischem Leader identifziert werden wollen, der in seiner persönlichen Lebensführung erhebliche Defizite aufweist.

Dalrymple selbst rief zwar nicht zur Wahl eines Kandidaten auf, machte aber selber deutlich, wozu er sich zählt: zur Church Remnant. Wie auch immer diese Wahl ausgeht, stehen die US-Evangelikalen in den kommenden Jahren vor einer herausfordernden Aufgabe: Sie müssen dringend ihr Verhältnis zu politischer Macht theologisch klären und – auch wenn das reichlich optimistisch klingt – auf einen erkennbaren gemeinsamen Nenner bringen. In anderen Ländern waren es oft historische Einschnitte, die die Kirche dazu gezwungen haben, ihre politische Ethik zu reflektieren und sich, wo nötig, in Demut zu üben. Die Trump-Ära und die größte Pandemie seit 100 Jahren könnte ein solcher Einschnitt sein.

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