Deutschland und die (verpassten?) Chancen einer EU-Ratspräsidentschaft

Ab Juli setzt Deutschland die politischen Themen der EU für das nächste halbe Jahr. Uwe Heimowski, Politik-Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz, erklärt in einem Gastbeitrag, welche Chancen er darin sieht, welche Fragen diskutiert werden sollten und was er vom Motto der deutschen Ratspräsidentschaft hält.
Von PRO
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt auf dem europäischen Kontinent

Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland die Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union. Der Rat, der aus verschiedenen Ministerräten besteht, ist eines der höchsten Gremien der Staatengemeinschaft. Der Vorsitz rotiert unter den Mitgliedern und dauert jeweils ein halbes Jahr. Die Präsidentschaft besteht nicht nur pro forma, sondern besitzt eine prägende Kraft. Das Land, welches den Vorsitz inne hat, vertritt den Rat gegenüber den anderen Organen der EU, zum Beispiel dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission. Die jeweiligen Fachminister leiten die Sitzungen und führen Verhandlungen, etwa mit Drittstaaten und internationalen Organisationen.

Der wichtigste Punkt ist vor allem das „Agenda-Setting“: Die Ratspräsidentschaft stellt die Tagesordnungen auf. Und da blickt nicht nur Europa dieser Tage auf Deutschland. Welche Themen will Deutschland setzen? Dabei geht es um nicht weniger als die Frage, wie ist es um die Zukunft der Europäischen Union bestellt ist. Und auch: Wie sieht das europäische Erbe der scheidenden Kanzlerin Angela Merkel aus?

Störungen stehen an erster Stelle

Über die Krisen der EU wurde genügend diskutiert. Die Eurokrise war noch nicht einmal im Ansatz bewältigt, da folgte die Flüchtlingskrise. Der Brexit war noch nicht vollzogen, da machten die Nationalstaaten angesichts des Coronavirus reihenweise ihre Schotten dicht. Tiefe Risse zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd gehen durch die Union. Nicht nur EU-Skeptiker stellen fest: Ohne grundlegende Reformen ist diese Europäische Union nicht handlungsfähig. Und doch hat Heinrich Bedford-Strohm, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, nicht zu Unrecht formuliert: „Europa ist die Zukunft“. Nur ein geeintes Europa könne die Herausforderungen bestehen. Dafür, möchte ich ergänzen, muss sich Europa aber die richtigen Fragen stellen – und sich auch auf seine christlichen Wurzeln besinnen.

Über ihre Ratspräsidentschaft hat die Bundesregierung das Motto gestellt: „Gemeinsam. Europa wieder stark machen.“

Folgende Leitgedanken hat sie dafür formuliert:

  • die nachhaltige Überwindung der Corona-Krise sowie die wirtschaftliche und soziale Erholung

  • ein stärkeres und innovativeres Europa

  • ein gerechtes Europa

  • ein nachhaltiges Europa

  • ein Europa der Sicherheit und der gemeinsamen Werte

  • ein starkes Europa in der Welt

Das sind natürlich nur Überschriften, hinter denen sich ausführliche Programme verbergen. Und doch zeigen sie einiges auf. Ruth Cohn, die Gründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI), war es, die das Postulat „Störungen haben Vorrang“ einführte. So in etwa liest sich für mich auch diese Agenda. Corona-Krise und wirtschaftliche wie soziale Erholung stehen ganz vorne. Das ist richtig und falsch zugleich.

Die Chance liegt in einem Rückbesinnen und Neuentdecken der Wurzeln, aus denen Europa erwachsen ist.

Natürlich sind das die dringendsten Themen, und natürlich darf man die Menschen in dieser Zeit nicht alleine lassen. Aber es sind nicht unbedingt die wichtigsten. Denn eins dürften uns die vergangenen Jahre gelehrt haben: Auf die eine Krise folgt die nächste. Wenn also in der aktuellen Krise eine Chance liegen soll, dann nur, wenn wir mehr tun, als nach einer schnellen Lösung zu suchen. Wir müssen – um es mit Jesus zu sagen (Matthäus 23,23) – das eine tun und das andere nicht lassen. Die Chance liegt in einem Rückbesinnen und Neuentdecken der Wurzeln, aus denen Europa erwachsen ist. Europa muss nicht nur „wieder stark“, sondern möglicherweise ganz anders werden. Für meinen Geschmack ist hier zu viel „Weiter so“ und zu wenig Vision, zu viel Pragmatismus und zu wenig Fragen nach den Ursachen.

Fragen, die gestellt werden müssen

Die wesentlichen Begriffe für eine grundlegende Debatte sind ja in den Leitgedanken der Bundesregierung genannt: Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, gemeinsame Werte. Und auch: Innovation. Allesamt Werte, die in der christlichen Tradition Europas wurzeln.

Wie sieht es aus, wenn wir diese Werte praktisch umsetzen? Wir brauchen dazu eine breite Debatte, in der Fragen wie diese diskutiert werden müssen:

  • Wie ist eine Gerechtigkeit zu denken, die allen Mitgliedern der EU die gleichen Chancen, Rechte und Verantwortlichkeiten einräumt (oder auch zumutet)? Welche Rechte sollen bei den Nationalstaaten bleiben, welche müssen kollektiv gedacht werden? Braucht es beispielsweise eine europäische Armee? Wie ist Gerechtigkeit im globalen Kontext zu verstehen, wenn EU-Subventionen den Weltmarkt verzerren, wenn Lieferketten intransparent und ausbeuterisch gestaltet sind, wenn große Teile des Finanzmarktes und internationaler Konzerne sich den Kontrollen entziehen?

  • Wie steht es um die Nachhaltigkeit, wenn wir unsere Klimaziele wieder und wieder verfehlen? Wenn wir die Wirtschaft mit Milliardenkrediten versorgen, ohne die Hilfen an Innovationen zu binden? Wenn unsere Bildungssysteme im weltweiten Vergleich zurückfallen?

  • Was macht es kollektiv mit unsere Seele als christlich geprägter Kontinent, wenn wir dem Flüchtlingselend auf den griechischen Inseln und am Balkan einfach zusehen? Wie wollen wir andererseits die Probleme bei der Integration von Migranten bewältigen? Wie gehen wir mit dem aufflammenden Rassismus und den antisemitischen Ausfällen und Straftaten um?

  • Welche Signale senden wir in die Welt, wenn wir angesichts der weltweit steigenden Zahlen religiös Verfolgter das Mandat des EU-Sonderbeauftragten für Religionsfreiheit außerhalb der Europäischen Union nicht verlängern, das erst 2016 geschaffen wurde? Wie wollen wir uns in internationalen Beziehungen und bei technischen Entwicklungen generell zu Menschenrechtsfragen verhalten?

  • Wo und unter welchen Vorraussetzungen wollen wir die großen ethischen Fragen nach dem Menschenbild, nach dem Wert des Menschen, nach der Bedeutung von Familie, von Alten und Kranken debattieren?

Fragen über Fragen. Mehr als in einem halben Jahr Ratspräsidentschaft zu beantworten sind. Die Chance besteht aber darin, sie jetzt zu stellen. Historisch ist gerade angesichts der Corona-Krise der richtige Zeitpunkt. Für mich ist das Friedensprojekt Europa ein Herzensanliegen. Und genau deswegen erwarte ich nicht weniger, als dass die Weichen so gestellt werden, dass es zukunftsfest werden kann.

Uwe Heimowski ist der Politik-Beauftragte der Deutschen Evangelischen Allianz. Er ist außerdem Mitglied des Vorstands der Christlichen Medieninitiative pro, die auch das Christliche Medienmagazin pro herausgibt.

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