Meinung

Orchester des Schönredens

Die Volkskirchen in Deutschland schrumpfen wie noch nie. Dennoch versuchen ihre Funktionäre geradezu zwanghaft, dem Schwund etwas Gutes abzugewinnen. Dabei braucht es etwas ganz anderes.
Von Anna Lutz

In etwa fünf Jahren werden die Konfessionslosen in Deutschland zum ersten Mal in der Mehrheit sein. Zum Vergleich: Anfang der 70er waren noch über 90 Prozent der Deutschen Kirchenmitglieder. In Westdeutschland waren doppelt so viele Mitglieder einer EKD-Gliedkirche wie heute. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat die evangelische Kirche knapp 20 Millionen Anhänger verloren.  

Die blanken Zahlen der nun erschienen Mitgliederuntersuchung sind derart dramatisch, dass, wäre die EKD eine Firma, wohl jeder Vorsitzende längst hingeschmissen hätte oder von seinem Aufsichtsrat entlassen worden wäre. Mindestens würden Belegschaft und Kunden eine Neuausrichtung fordern. Erneuerung, Innovation und vor allem: Fehlererkenntnis. Auswertung. Coaching mit externen Experten. Gegenmaßnahmen.

Und ja, an vielen Stellen in der Kirche bemühen sich Gemeinden, Pastoren und Mitarbeiter um neue Wege und fragen sich: Wie geht es weiter? Sie alle müssen sich – mit Verlaub – mächtig veräppelt vorkommen, wenn sie dieser Tage Nachrichten schauen.

Sie sei „sehr ernüchtert wie auch sehr ermutigt“, sagte etwa Annette Kurschus, EKD-Ratsvorsitzende, zu den Ergebnissen der Mitgliederuntersuchung auf der Synode. Volker Jung, der hessen-nassauische Kirchenpräsident, erklärte: Man habe es nicht mit einem Versagen der Kirche zu tun. Auch eine kleiner werdende Kirche könne wirkungsvoll sein. Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich: Die Kirche befinde sich nicht an einem Kipppunkt, sondern helfe dabei, die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Stetige Selbstversicherung statt neuem Mut

Nun ist Verzagtheit mitnichten eine evangelische Tugend, aber die Art und Weise des Schönredens und Beschwichtigens ist derweil zum System geworden. Jahraus, jahrein, immer pünktlich zu neuen und sich immer dramatischer darstellenden Mitgliederuntersuchungen besinnen sich evangelische Leitungspersönlichkeiten auf die Vorzüge der „Minderheiten“- oder wahlweise auch „Bekenntniskirche“. Sie erklären, dass die Kirche weiterhin Prägekraft habe und wie notwendig sie gerade in Zeiten wie diesen sei, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. 

Das mag alles stimmen, doch wie schmerzlich vermisst man hier jemanden, der aufsteht und den ehrenamtlichen Mitarbeitern und angestellten Geistlichen, die in diesen Jahren des Schwundes geradezu Übermenschliches in ihren Gemeinden leisten, zuruft: „Los, packen wir’s an! Begeistern wir die Menschen neu!“ An Stelle eigentlich notwendiger Motivationsreden und Bekenntnisstärke steht beständige Selbstversicherung.  

Ich wünsche der evangelischen Kirche – und das gilt im übrigen auch den vielen Freikirchen – dass sie künftig weniger versucht, ihrem Minderheitenstatus etwas Positives abzugewinnen. Und stattdessen neue Kraft findet und stiftet, um Menschen zu gewinnen und zurückzugewinnen. Denn eine schrumpfende Kirche ist nichts Gutes. Auch, wenn es manchmal auf Synoden fast so klingen mag.

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