Neuanfang nach der Katastrophe

Mit der „Befreiung vom Nationalsozialismus“ stand Deutschland vor einer politischen und gesellschaftlichen Neuordnung. Was beim Gedenken oft untergeht: Auch die evangelische Kirche musste ihre innere Zerrissenheit überwinden.
Von Norbert Schäfer
Gedenktafel Darmstädter Wort

Während der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland von 1933 bis 1945 hielt die katholische Kirche institutionelle Distanz zum Regime und vermied, so gut es ging, theologische Anpassung. Anders die Protestanten: Die „Deutschen Christen“ suchten Anschluss an den Nationalsozialismus, etwa indem sie das Alte Testament ablehnten und die Verfolgung von Juden befürworteten. Die „Deutschen Christen“ dominierten die evangelische Kirche, während die „Bekennende Kirche“ sich weigerte, sich dem Führungsanspruch der „Deutschen Christen“ zu unterwerfen, und äußere Eingriffe des NS-Regimes ablehnte.

„Die Parole der Bekennenden Kirche war: ‚Kirche muss Kirche bleiben‘ – das sollte man aber nicht mit politischem Widerstand gegen die NS-Diktatur verwechseln“, erklärt der Historiker Clemens Vollnhals. Die Altpreußische Union – eine Landeskirche, die bis zu ihrer Auflösung nahezu identisch war mit dem preußischen Gebiet – war zudem stark nationalistisch geprägt. Insgesamt wählten die Menschen in evangelischen Gebieten die NSDAP häufiger als jene in katholisch geprägten Regionen.

Nach 1945 gewannen die Kirchen neue Freiheiten. Bischof Theophil Wurm betonte, dass die evangelische Kirche erstmals seit 400 Jahren ohne staatliche Vorschriften agieren könne. „Die kirchliche Neuordnung war für die evangelischen Kirchenführer nach dem Krieg das vordringlichste Problem“, sagt Vollnhals, der 24 Jahre lang stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden war. Im August 1945 trafen sich Kirchenführer in Treysa, was später zur Gründung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) führte. Der EKD-Rat bestand ausschließlich aus Vertretern der Bekennenden Kirche, mit Theophil Wurm als Ratsvorsitzendem und Martin Niemöller als Leiter des Außenamts. Vertreter der „Deutschen Christen“ und der „neutralen Mitte“ waren laut Vollnhals nicht vertreten. In den Landeskirchen hingegen blieb vieles zunächst unverändert, und die Denazifizierung verlief schleppend. Extremere „Deutsche Christen“-Pfarrer wurden oft nur versetzt, statt konsequent entfernt. Vollnhals findet, dass die „innerkirchliche Selbstreinigung“ zu ihrer Denazifizierung nur wenig beigetragen hat.

„Wir sind in die Irre gegangen, dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt.“

Aus dem „Darmstädter Wort“

Am 18. und 19. Oktober 1945 traf sich in Stuttgart der EKD-Rat zum zweiten Mal. Dabei kam es zu einem denkwürdigen Ereignis, als sich ziemlich überraschend eine hochrangige ökumenische Delegation um den niederländischen reformierten Theologen Willem Adolf Visser ’t Hooft und dem englischen Bischof George Bell anmeldete. „Man hat erwartet, dass die deutschen Kirchen etwas zu ihrer Schuld und zum Versagen angesichts der ungeheuerlichen NS-Verbrechen sagen würden, um einen Neuanfang mit der Ökumene überhaupt zu ermöglichen“, erklärt Vollnhals. Daraufhin sei das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ geschrieben worden – mehr aus der Erwartung der Ökumene-Vertreter heraus, denn aus eigener Selbsterkenntnis. 

Darin lautet es unter anderem: „Mit großem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Vollnhals wertet das Bekenntnis kritisch: „Das ist eigentlich eine Verharmlosung gewesen, wenn man sagt, sie hätten jahrelang gegen den Geist angekämpft. Das galt vielleicht für Teile des bruderrätlichen Flügels, aber ganz bestimmt nicht für die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit.“

Stuttgart-Leaks

Die deutsche Seite hatte sich zusichern lassen, dass das Dokument nur für den internen kirchlichen Gebrauch verwendet wird. Durch eine Indiskretion wurde das Dokument jedoch der Presse in der britischen Besatzungszone bekannt und veröffentlicht. „Es gab als Folge darauf in den Gemeinden einen riesigen Proteststurm, weil es als politisches Schuldbekenntnis aufgefasst wurde“, erläutert der Historiker. Das sei auch daran erkennbar, dass sich letztendlich von 27 Landeskirchen nur vier ausdrücklich hinter das Stuttgarter Schuldbekenntnis gestellt hätten – die Landeskirche Baden, die evangelisch reformierte Landeskirche Hannover, die Westfälische Provinzialsynode und die Rheinische Provinzialsynode. In Bayern sei das Dokument nicht einmal im Amtsblatt der Kirche veröffentlicht worden.

Wie schwer sich die Kirchenleitungen mit dem Eingeständnis der Schuld taten, schildert der Historiker anhand eines Offenen Briefs des EKD-Rats von Dezember 1945 an die Christen in England, der dem British Council of Churches übergeben wurde. Darin lautet es unter anderem: „Das deutsche Volk auf einen noch engeren Raum zusammenzupressen und ihm die Lebensmöglichkeiten möglichst zu beschneiden, ist grundsätzlich nicht anders zu bewerten als die gegen die jüdische Rasse gerichteten Ausrottungspläne Hitlers.“ Vollnhals zu dem Schreiben: „Das ist der Ton eines unbußfertigen Nationalismus, der für die Verlautbarungen der evangelischen Kirche in diesen ersten Nachkriegsjahren viel typischer ist als der des Stuttgarter Schuldbekenntnisses.“

Nur wenige stemmten sich gegen die anfängliche „Aufrechnungsmentalität“, sagt der Historiker. „Der einzige, den es richtig aufgeregt hat, war (der Schweizer Theologe, d.R.) Karl Barth. Er hat den Deutschen immer ins Gewissen geredet, sie sollten endlich anerkennen, dass sie eben auch politisch in die Irre gegangen seien.“ Auch Martin Niemöller, der selbst acht Jahre lang als „persönlicher Gefangener Adolf Hitlers“ in Konzentrationslagern saß, habe diese politische Dimension des Schuldbekenntnisses vertreten im Sinne einer Kollektivhaftung für die Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden. Das habe Niemöller jedoch extrem unbeliebt gemacht innerhalb der EKD, weshalb er 1949 als Leiter des kirchlichen Außenamtes abgesetzt worden sei. „Das Erscheinungsbild der evangelischen Kirche, was wir aus den letzten Jahrzehnten kennen, darf man nicht auf 1945 zurückprojizieren. Es war ein langer Entwicklungsprozess. Das sieht man auch daran, dass es erst 1950 ein Wort der Synode der EKD zur Schuld an Israel gab.“

Bruch mit protestantischer Leitkultur

Neben dem Stuttgarter Schuldbekenntnis fand 1947 auch das sogenannte Darmstädter Wort seinen Weg in die öffentliche Diskussion. Dieses Dokument, das von einer Minderheit im Bruderrat verabschiedet wurde, brachte die Erkenntnis zum Ausdruck: „Wir sind in die Irre gegangen, dadurch haben wir dem schrankenlosen Gebrauch der politischen Macht den Weg bereitet und unsere Nation auf den Thron Gottes gesetzt.“ Vollnhals: „Der Wortlaut markiert einen Bruch mit dem nationalen Selbstverständnis, das über Jahrzehnte hinweg die protestantische Leitkultur in Deutschland geprägt hatte.“ Gleichzeitig kritisierte der Text den „christlich legitimierten Konservatismus“ und forderte, den Blick wieder auf die soziale Gerechtigkeit und die ursprünglichen Werte des Evangeliums zu richten.

Die Nachkriegszeit war auch in der EKD geprägt von dem Versuch, die Spuren der NS-Zeit zu tilgen. Zwar fand eine innerkirchliche Selbstreinigung statt, doch blieb diese von begrenztem Umfang. Erst in den 1950er Jahren, im Zuge der gesellschaftlichen und politischen Neuorientierung in der Bundesrepublik, begann eine allmähliche Abkehr von den nationalistischen Strömungen der Vorkriegszeit. Dokumente wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis und das Darmstädter Wort spiegeln den Willen der Kirche wider, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Heute stehen die Kirchen vor der Aufgabe, diese historische Verantwortung mit den Herausforderungen der modernen Gesellschaft für den Erhalt der Demokratie glaubwürdig zu verbinden.

Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 2/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können das Magazin hier kostenlos bestellen.

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