Nationalrat Marc Jost: „Viele wagen sich gar nicht mehr zu debattieren“

Bis vor kurzem leitete er die Schweizer Evangelische Allianz, nun sitzt er als Nationalrat im Parlament: Marc Jost über Christen in der Politik, die „Ehe für Alle“ und warum sein politisches Jahr mit Skifahren beginnt.
Von Norbert Schäfer
Marc Jost


PRO: Herr Jost, Sie sind seit ungefähr einem Monat als Nachrücker im Nationalrat. Die nächsten Wahlen stehen im Oktober 2023 an. Wann beginnt der Wahlkampf?

Marc Jost: Vorvorgestern. (lacht) Mein Amtsantritt war eigentlich auch der Auftakt zum Wahlkampf. Jedenfalls haben viele meiner Kolleginnen und Kollegen ihren Wahlkampf bereits lanciert.

Sie sind als Christ Mitglied der Evangelischen Volkspartei. Mit welchen Themen treten Sie an?

Die EVP setzt sich ein für eine intakte Umwelt, für ein respektvolles Miteinander in der Schweiz und für starke Familien. Und ich persönlich – auch durch meine berufliche und persönliche Geschichte – lege einen Fokus auf Themen der internationalen Zusammenarbeit und der Migrations- und Asylpolitik. Auch die Themen rund um das Verhältnis von Staat und Religion sind mir sehr vertraut und wichtig.

Der Nationalrat hat mehrheitlich für ein Verbot von Konversionstherapien votiert. Sie haben gegen die Mehrheit gestimmt. In Deutschland haben sich unter Evangelikalen zwei Lager gebildet über der Frage von Homosexualität, Gemeinde und Konversion. Die Debatte wurde mitunter recht heftig geführt. Welche Reaktionen gab es bei Ihnen?

Es ist sehr ruhig geblieben. Wir haben in der Schweiz vor zwei Jahren die Debatte über die Ehe für alle geführt. Das war vereinzelt sehr heftig. Ich war da in sehr exponierter Position gegen die Ehe für alle. Als Evangelische Allianz haben wir damals Position bezogen und uns respektvoll und konstruktiv in die Debatte eingebracht mit Blick auf das Wohl der Kinder. Die Debatte um Konversionstherapien ist so etwas wie eine Fortsetzung dieser Debatte. In dem Sinne hat jetzt die Entscheidung keine hohen Wellen geschlagen. Es gab in den sozialen Medien einige spitze Bemerkungen, aber es blieb sehr ruhig im Verhältnis zu dem, was ich auch schon erlebt hatte in den letzten zwei Jahren. Damals habe ich auch sehr unanständige und niveaulose Zuschriften per Post erhalten.

Homosexualität und Konversion sind Themen, wo viele sich gar nicht mehr wagen zu debattieren. Das merke ich auch im Bundeshaus. Da hat aus meiner Sicht eine tiefgreifende Debatte noch nicht wirklich stattgefunden.

Wir kommen von der Weltklimakonferenz. Wie erklären Sie Ihren Kindern, wie es um das Klima und die Umwelt bestellt ist?

Unsere vier Kinder – es sind Teenager – sind sehr sensibilisiert für das Thema. Sie fragen mich, warum in der Schweiz die Mühlen der Demokratie so langsam mahlen und die Netto-Null-Bilanz für Energie von der Wirtschaft noch nicht erreicht wurde. Da bin ich dann schon in Erklärungsnot den Kindern gegenüber und muss eingestehen, dass die lange Entscheidungsfindung eine Schattenseite der Demokratie ist.

In Deutschland radikalisiert sich der Klima-Aktivismus. Menschen kleben sich aus Protest auf Straßen und Rollfeldern fest. Wie bewerten Sie das Spannungsfeld zwischen Klima-Protest und Rechtsstaatlichkeit?

Wir kennen in der Schweiz solche radikalen Protestmaßnahmen auch. Ich habe einerseits Verständnis für das Gefühl der Ohnmacht und Betroffenheit bei den Menschen, die jetzt zu so radikalen Mitteln greifen. Die Protestaktionen erhalten Aufmerksamkeit und Medienpräsenz. Das kann dazu dienen, dass wir im Bundeshaus an dem Thema dranbleiben und nicht abgelenkt werden. Andererseits finde ich diese Proteste daneben und nicht zielführend. Ich unterstütze diese Maßnahmen nicht. Als Politiker möchte ich mit allen, die guten Willens sind, Lösungen suchen.

Hier hat die radikale Form des Protestes auch Rückendeckung von Kirchenoberen erhalten. Stoßen derlei Klimaproteste bei Christen in der Schweiz auf Verständnis oder eher auf Unverständnis?

Zuerst muss ich präzisieren, dass sich die Protestbewegung verändert hat. Fridays for Future etwa war aus meiner Sicht eine recht provokative, aber doch konstruktive Bewegung und wurde wohlwollend in den Kirchen der Schweiz größtenteils aufgenommen. Die Evangelische Allianz in der Schweiz hat eine Arbeitsgemeinschaft für Klima, Energie und Umwelt. Dort ist auch eine eher radikale christliche Jugendbewegung dabei und willkommen. Deren Protestaktionen waren aber immer geprägt von einer positiven Grundhaltung, die nicht auf destruktive, illegale Mittel zurückgreifen musste. Die Stimmung ist jetzt aber gekippt in den letzten Monaten. Die Öffentlichkeit und die Kirchen nehmen die letzten Proteste nicht mehr als positiv auf, sondern stehen eher kritisch dieser Form gegenüber.

Aus meiner Sicht haben die ökologische Bewegung und das Engagement für Schöpfungsverantwortung in den Landeskirchen eine längere Tradition als in den Freikirchen. Aber in den letzten 20 Jahren wurden auch die Freikirchen mehr und mehr aktiv in diesen Fragen und es gab eine erfreuliche Entwicklung hin zu mehr Verantwortung für die Schöpfung, die Umwelt und das Klima.

In welcher Verantwortung sehen Sie Christen beim Thema von Umweltschutz?

Ich sehe die Christen in vorderster Reihe, wenn es darum geht, für die Schöpfung Verantwortung zu übernehmen. Aus meiner Sicht ist das aus theologischer Überlegung ein Auftrag an uns Christen. Aus dem Schöpfungsbericht, aus den ersten Texten der Bibel, sehe ich Christen in eine Verantwortung gestellt, diese Schöpfung zu bebauen und zu bewahren. Natürlich ist dann der Interpretationsspielraum sehr groß, wie das zu geschehen hat. Aber dass wir uns als Christen Gedanken machen und Verantwortung übernehmen sollen für unser Handeln und unser Tun, das halte ich für unstrittig.

Haben Sie ein Motto über Ihre politische Tätigkeit gesetzt?

Ich habe ein Leitwort übernommen eines ehemaligen Regierungsmitglieds, das aus dem Buch Jeremia der Bibel abgeleitet ist. Es lautet: Wenn es der Welt gut geht, dann geht es auch der Schweiz gut. „Suchet der Stadt Bestes …“ steht da auch im biblischen Text und zielt darauf ab, dass wenn es den Menschen in Babylon gut geht, dann geht es auch dem Volk Gottes gut, das dort im Exil ist. Es drückt für mich aus, dass wir als wohlhabende und sicher lebende Schweizer eine Verantwortung für die Welt haben. Nicht einfach nur aus Selbstlosigkeit, sondern auch, weil wir selber abhängig sind von Europa, Afrika, der ganzen Welt.

Was können Deutsche von Schweizer Politikern lernen?

Bürgerinnen und Bürger in Deutschland können über Sachfragen so gut wie nie abstimmen. Diese Partizipation in der Schweiz sehe ich als großen Mehrwert. Wenn der Bürger an wichtigen Entscheidungen teilnehmen kann, steigt automatisch auch die Akzeptanz der Politik und der politischen Arbeit, weil er sich als Teil des Ganzen fühlt. Das wäre etwas, was man wirklich in Deutschland aufnehmen könnte oder eben sogar auf EU-Ebene aufnehmen sollte, damit die Akzeptanz der ganzen politischen Entscheide in der Breite der Bevölkerung besser akzeptiert wird. Auch langfristige Machtpositionen kennen wir in der Schweiz nicht. Ein Bundespräsident ist bei uns nur ein Jahr im Amt. Zu viel Macht korrumpiert. Auch davon kann man lernen, meine ich.

Wie starten Sie ins neue Jahr?

Mit einem parlamentarischen Skirennen in Davos. Dort treffen sich britische und eidgenössische Politiker und Parlamentarier zum Skifahren und tragen einen Slalom und einen Riesenslalom aus. Neben dem Spaß geht es aber auch um Gespräche und das Netzwerken zwischen britischen und schweizerischen Persönlichkeiten.

Vielen Dank für das Gespräch.

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2 Antworten

  1. Bei der Überschrift hatte ich ganz andere Vorstellungen im Kopf über den Inhalt des letztlich dann thematisch durchaus vielfältigen Gesprächs.
    Weshalb diese Überschrift? Es ist ein kleiner Nebensatz in diesem ganzen Interview, in dem es vorrangig gar nicht darum geht, dass irgend etwas nicht gesagt werden dürfe. Das Thema Klima/Schöpfungsverantwortung hat ja beispielweise viel mehr Raum in dem Interview. Bekommt man etwa mehr Klicks, wenn man in einem christlichen Magazin zunächst auf die Debatte über Homosexualität anspielt und wieder einmal das Schreckgespenst hervorholt, die LGBT-Community würde Homo-Kritiker bedrohen?
    Ich finde diese Überschrift dem Inhalt des Artikels nicht angemessen und sehr tendenziös.

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  2. Wer über die Themen Homosexualität und Konversion debattieren möchte, dem kann ich von Herzen als Grundlage die Vorträge von Torsten Dietz, so wie das Buch von Timo Platte “Nicht mehr schweigen“ empfehlen.

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