Der Krieg betrifft hier jeden

Millionen Ukrainer sind bereits vor dem Krieg geflohen und Millionen harren weiter in ihrer Heimat aus. Humanitäre Transporte in die Ukraine zeigen den Menschen: Ihr seid nicht vergessen. Doch ihre Hoffnung setzen sie auch auf politische und militärische Unterstützung – und Gottes Hilfe.
Von Martin Schlorke
Gain-Ukraine

Freitagmorgen, 7 Uhr. Kriegstag Nummer 23. Der Konvoi steht still – bereits seit zwei Stunden geht nichts mehr an der polnisch-ukrainischen Grenze. In der zweispurigen Schlange stehen Dutzende, als humanitäre Transporte gekennzeichnete Lkw. Darunter vier Trucks mit deutschen Nummernschildern: Sechs Männer, die im Auftrag der christlichen Hilfsorganisation Gain mit ihren Lkw mehr als 80 Tonnen Hilfsgüter ins Kriegsland bringen wollen. Die aufgehende Sonne strahlt in die Fahrerkabinen. Der Himmel leuchtet blau. Draußen sind es dennoch knackige minus zwei Grad. Im Radio wechseln sich Popsongs von Rihanna mit polnisch-sprachigen Liedern ab. Unterbrochen wird die Musik abwechselnd von einer Frauen- und einer Männerstimme, die auf Englisch, Ukrainisch und Polnisch über
eine Hilfs-Hotline für Flüchtlinge aus der Ukraine informieren: +48 797829617.

Inmitten des Grenzgebietes überqueren aus der Gegenrichtung schätzungsweise 100 ukrainische Frauen und Kinder den Lkw-Parkplatz, auf dem die Trucker warten. Wegen der Kälte sind die Gesichter der vielen Frauen und Kinder tief in Kapuzen oder unter Mützen versteckt. Eine Frau in ukrainischer Militäruniform im Camouflage-Look führt die Flüchtlinge an. Ein wenig entfernt wartet bereits die nächste 100er-Gruppe auf den Grenzübertritt Richtung Frieden.

Hilfe vom polnischen Geheimdienst

Weitere Flüchtlinge warten in und vor olivgrünen Zelten. Daneben etwas größere weiße Zelte mit weißen Kreuzen auf rotem Hintergrund – die Malteser. Mitarbeiter verteilen Getränke. Nur wenige Meter weiter bildet sich eine lange Schlange von Autos mit ukrainischen Kennzeichen. Auch sie wollen in die Europäische Union. Für die deutschen Lkw geht es stattdessen weiter in die andere Richtung – über die Grenze hinein ins Kriegsland. Das Ziel ist Riwne, eine 250.000-Einwohner-Stadt rund 300 Kilometer im Landesinneren. Im Hinblick auf die Sicherheit gehört zur Planung der Fahrt die enge Zusammenarbeit mit einem polnischen Geheimdienstmitarbeiter, der anonym bleiben muss.

Gain-Chef Klaus Dewald, der selbst einen Lkw fährt, nennt ihn Adam. Nur wenn Adam sein Einverständnis gibt und die Sicherheitslage positiv beurteilt, fährt der Konvoi über die Grenze. Das „Go“ gab er bereits am Abend zuvor. Seine Einschätzung ist weiterhin aktuell, wenngleich ein nächtlicher Luftangriff nahe Lwiw im Team ein Thema ist – denn an der Großstadt führt die Strecke vorbei. Dennoch: Angst hat das Team keine.

„Ich vertraue Gott und der Planung von Klaus“, erklärt Thomas. Der 57-Jährige, der als selbstständiger Ingenieur arbeitet, fährt schon seit Jahren für Gain. „Irgendwann kommt jeder in ein Alter, in dem man sich eine Harley kauft oder eine andere Beschäftigung sucht.“ Er wollte etwas mit Bedeutung machen. Deswegen transportiert er Hilfsgüter zu Menschen in Not. Die Reise der deutschen Trucker begann bereits vor drei Tagen in Hessen und Baden-Württemberg. Eine erste Station erreichten sie am Abend zuvor in Legnica. Dort befindet sich ein zentrales, bis zur Decke gefülltes Verteillager von Gain. Begrüßt werden die Fahrer von Art, einem gut gelaunten Amerikaner, der zur späten Stunde noch im Lager arbeitet.

Foto: PRO/Martin Schlorke
Art arbeitet im polnischen Legnica für Gain. Dort ist er für das Warenlager verantwortlich.

Es ist seit Kriegsbeginn nicht der erste Abend, an dem er Überstunden macht. Schon den ganzen Tag kümmert er sich um die Befüllung des Lagers. Man sieht Art die Anstrengung und den Schlafmangel der letzten Wochen an. Alles halb so wild, meint er. „Wir brauchen nur Liebe und Umarmungen und dann sind wir glücklich.“ Dewald wollte er das Lager eigentlich kaufen. Allerdings habe er nicht den Zuschlag bekommen, erklärt er. Der neue Besitzer gestatte nun aber Gain, das Lager mietfrei zu nutzen. „Gottes Pläne sind oft anders – aber auch besser“, sagt Dewald.

Checkpoints, Checkpoints, Checkpoints

Die Westukraine ist bis dahin von Kampfhandlungen weitestgehend verschont geblieben. Einzig von Luftangriffen auf militärische Infrastruktur durch das russische Militär berichten die Medien. Dennoch befinden sich an nahezu jedem Abzweig von der Hauptstraße Checkpoints – bestehend aus gestapelten Sandsäcken, der ukrainischen Fahne und Panzersperren. Die meisten Checkpoints sind besetzt. An manchen tragen die Männer offen
Waffen. Zudem sind viele kleinere Wege, die von den Hauptstraßen abführen, mit Baumstämmen versperrt. Bei genauerem Blick fallen die gerade Schnitte im Holz auf: die Bäume wurden gefällt, um die Wege zu blockieren.

Bewacht werden die Checkpoints meist nicht von regulären Soldaten. Vielmehr handelt es sich um eine Art Bürgerwehr, die bereit ist, ihre Dörfer gegen die russischen Truppen zu verteidigen. Neben der ukrainischen Fahne weht bei den meisten Checkpoints die in der Westukraine weit verbreitete schwarz-rote Flagge. Diese ist nicht unproblematisch. Steht sie doch für die 1942 gegründete „Ukrainische Aufständische Armee“ (UPA), den militärischen Flügel der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“, die mit Nazi-Deutschland kooperierte. Obwohl die UPA längst nicht mehr existiert, werden deren Kämpfer bis heute teilweise verehrt.

Foto: PRO/Martin Schlorke
Unzählige Checkpoints säumen den Weg nach Riwne

Als es dunkel wird, sind die Checkpoints meist schon aus größerer Entfernung zu erkennen. An den bemannten Kontrollpunkten stehen die Männer nun um große Metalltonnen, in denen wärmende Feuer lodern. Der Rauch vermischt sich mit der ohnehin rauchigen Luft, die vom landwirtschaftlichen Abbrennen der Felder entsteht.

Der Heimatort – eine Geisterstadt

Gegen 20.30 Uhr und damit viel später als kalkuliert, erreicht der Konvoi sein Ziel: eine Lagerhalle am Rande der Stadt Riwne. Die Halle wird von einem Kirchengemeindeverband genutzt. 30 vornehmlich junge Männer stehen auf der Entladerampe bereit. Sobald der erste Lkw rückwärts an die Rampe gefahren und seine Anhängertür geöffnet ist, beginnen die Männer ihre Arbeit. Wie eine Ameisenkolonie wuseln die Ukrainer hin und her, holen Kisten und Paletten aus den Lastern und tragen sie ins Lager. Wer gerade nichts trägt, schüttelt entweder dankbar einem der deutschen Fahrer die Hand oder macht mit dem Smartphone Fotos und Videos. Geladen haben die Lkw vor allem Lebensmittel: Zucker, Nudeln, Kartoffeln und Teebeutel, aber auch Matratzen und Hygieneartikel.

Foto: PRO/Martin Schlorke
In Riwne laden Freiwillige dir rund 80 Tonnen Hilfsgüter aus

Was auf den ersten Blick wie heilloses Durcheinander aussieht, scheint reibungslos zu funktionieren. Das liegt nicht zuletzt an Maksym, der das Gewusel koordiniert und mit einem Edding die abgeladenen Paletten beschriftet. Maksym ist eigentlich der Chef eines anderen Kirchgemeindeverbandes, musste aber wegen des Krieges seine eigentliche Heimat nördlich von Kiew verlassen. In Riwne hilft er bei der Organisation und Verteilung der Hilfsgüter. Kürzlich war er sogar mit einem kleinen Hilfstransport in seiner Heimatstadt – sie gleiche einer Geisterstadt, erzählt er.

Aus Sicherheitsgründen mache keiner das Licht an, selbst beim Öffnen des Kühlschrankes seien die Menschen vorsichtig. Er hoffe, dass der Krieg bald ein Ende findet, das Leid aufhört und er zu seinen Glaubensgeschwistern zurückkehren kann. Gott könne sofort so ein großes Wunder vollbringen und Putin stoppen, ist er überzeugt. Aber auch in westliche Sanktionen und Waffenlieferungen setzt Maksym seine Hoffnung. Der mögliche Einsatz von Chemiewaffen bereite ihm Sorgen, sagt er mit ernster Stimme. Für die Menschen in der Ukraine sei dies nicht nur ein mögliches Szenario, sondern reale Gefahr. Maksym traut Putin mittlerweile sogar den Einsatz von taktischen Atomwaffen zu.

Bleiben oder Gehen?

Ihm ist klar, dass durch jahrzehntelange Propaganda viele Russen „gehirngewaschen“ seien. Trotzdem verstehe er nicht, warum auch Christen Putin unterstützen. Das mache ihn traurig. Dennoch verspüre er keinerlei Hass gegen Russen, betont er. Das sei nicht seine Aufgabe als Christ und als Mensch. Zudem hat Maksym, wie viele Ukrainer, Verwandtschaft jenseits der Grenze.

Das Abladen geht derweil munter weiter. Die Freiwilligen stammen alle aus Riwne. Artem ist einer von ihnen. Mit Hilfe einer Übersetzungs-App erklärt er, dass vor dem Krieg seine Familie in der gesamten Ukraine verteilt war. Nach Kriegsbeginn mussten einige nun ihre Heimat verlassen. Eine seiner Schwestern ist in die USA geflohen. Der 19-Jährige selbst will allerdings in Riwne bleiben. Dort arbeitet er auch beruflich in jenem Lager, in dem gerade die Hilfsgüter aus Deutschland einsortiert werden. Seine Hoffnung und sein Gebet seien, dass der Krieg ein schnelles Ende findet.

Nächtlicher Raketenalarm

Abendbrot soll es in einem nahegelegenen Gemeindezentrum geben. Auf dem Weg in die Stadt müssen die Männer einen Checkpoint passieren. Als das Auto zum Stehen kommt, leuchtet ein Mann mit Sturmgewehr ins Auto. In Riwne herrscht ab 22 Uhr Ausgangssperre. Maksym hat allerdings eine Sondergenehmigung und darf passieren. Eigentlich war der Plan Dewalds, noch am selben Tag die Ukraine wieder zu verlassen. Denn je länger es dauert, desto größer das Risiko. Doch wegen der langen Wartezeit am Zoll ist eine Rückfahrt heute unmöglich geworden.

Während einige der Männer in ihren Trucks übernachten, verbringt der Rest die Nacht im Gemeindezentrum. Alle müssen komplett angezogen schlafen. Das heißt Hose, Pullover, Socken. In den vergangenen Tagen hatte es nachts regelmäßig Luftalarm gegeben. Im Fall eines erneuten Alarms müssten alle so schnell wie möglich in den Keller fliehen. Da bleibe keine Zeit, sich erst anzuziehen, erklärt Maksym. In dieser Nacht bleibt Alarm aus.

Dürfen Christen hassen?

Am nächsten Morgen fährt ein weißer Mercedes Sprinter mit großem rotem Kreuz an der Seitentür vor. In solchen Transportern werden die Hilfsgüter weiter nach Osten verteilt, erklärt Denys, der im administrativen Bereich für den Gemeindeverband arbeitet. Der Mercedes soll nach Charkiw fahren. Ein Mitglied der Gemeinde sei nach Ausbruch des Krieges mit so einem Transporter sogar ins heftig umkämpfte Mariupol gelangt. Aktuell sei dies aber nicht mehr möglich.

Denys selbst ist noch nicht vom Militär eingezogen worden, obwohl der 51-Jährige nach 20 Jahren polizeilicher Laufbahn eigentlich prädestiniert dafür wäre. Grund: zu hoher Blutdruck, erklärt er. Zudem gebe es sehr viel Freiwillige. Früher oder später könne es aber soweit sein. Dann sei er auch dazu bereit.

Bevor die Lkw zur Rückfahrt aufbrechen, gibt es noch einen Abstecher in eine nahegelegene Kirche. Während der Autofahrt dorthin erzählt Denys mit ernstem Blick von einem 40-Jährigen Gemeindemitglied, dessen Beerdigung am Vortag stattfand. Er wurde im Kampf um Kiew schwer verwundet und erlag seinen Verletzungen wenige Tage später in einem Krankenhaus in Riwne. Der Mann hinterlässt seine Frau und sechs Kinder. Ob Denys deswegen die Russen hast? „Als Christ muss man auch als Christ leben“, erklärt er – auch wenn das natürlich schwer falle.

Die Kirchenfenster sind mit Sandsäcken geschützt

Flüchtlinge in der Kirche

Im Keller der Kirche befinden sich Betten für bis zu 60 Menschen. Die hohen Fenster sind von außen mit Sandsäcken geschützt. Rund 20 Flüchtlinge halten sich in den Räumen auf, dennoch ist die Luft warm und stickig. In einem Nebenraum, in der sich die Küche befindet, waschen gerade zwei junge Frauen aus der Gemeinde das Frühstücksgeschirr. Für sie ist das ein kleiner Beitrag, um den Menschen auf der Flucht zu helfen. Für die Flüchtlinge in der Kirche ist Riwne nur eine Durchgangsstation. Die Stadt befinde sich zu nahe an den Kampfhandlungen, erklären sie – obwohl Kiew knapp 340 Kilometer entfernt liegt. Vielmehr ist für die meisten Menschen hier die Europäische Union das Ziel. Ähnliches hatte auch Maksym berichtet.

Foto: PRO/Martin Schlorke
Bis zu 60 Flüchtlingen bietet die Kirche Platz

Auf der Rückfahrt nach Polen an der Grenze das gleiche Bild: Am Zoll dauert es knapp neun Stunden. Auf ukrainischer Seite warten im Freien und in Zelten hunderte Flüchtlinge auf den
Grenzübertritt. Zwischen den olivgrünen und weißen Zelten liegt Müll, die Luft ist kalt. Dieselgeneratoren zur Stromversorgung in den Zelten wummern mit den Motoren der wartenden Lkw um die Wette. Freiwillige versorgen die Flüchtlinge, aber auch die wartenden Fahrer mit heißen Getränken, Obst und Keksen. Sie schätzen die Zahl der täglich ankommenden Flüchtlinge hier am Grenzübergang Korczowa-Krakowez auf ein paar Tausend. Zu Beginn des Krieges seien es noch viel mehr gewesen. Sie sagen, dass die Autoschlange damals bis zu 20 Kilometer lang war

Das Motto der meisten an der Grenze lautet: Raus aus der Ukraine und dorthin, wo Frieden herrscht. Für wie lange, das weiß hier jedoch keiner.

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