Mit Bach das Leben begreifen

Mit „Vision.Bach“ widmet sich die Internationale Bachakademie Stuttgart dem ersten Leipziger Kantatenjahrgang von Johann Sebastian Bach und führt 300 Jahre später diese Werke in einem Konzertzyklus auf.
Von PRO

Vieles ist neu im Mai 1723: die Stadt, das Amt, der Anspruch. Geblieben ist der innere und äußere Auftrag, denn Johann Sebastian Bach will und wird auch in Leipzig, der großen sächsischen Handels- und Messestadt, Musik zur Ehre Gottes machen. Der frisch berufene Thomaskantor stürzte sich regelrecht in die Arbeit und ließ binnen eines Jahres Sonntag für Sonntag und an den hohen Feiertagen auch fast immer eine neu komponierte, manchmal auch eine schon vorhandene, aber völlig neu eingerichtete Kantate aufführen. Über sechzig Stücke dieser Art bekamen die Leipziger Gottesdienstbesucher bis zum Sonntag nach Pfingsten 1724 zu hören.

Diesem ersten Leipziger Kantatenjahrgang geht die Internationale Bachakademie Stuttgart mit ihrem Projekt „Vision.Bach – Mit Bach das Leben begreifen“ nach. Am Ende werden es 23 Konzerte in Stuttgart und Umgebung sein, die diesen Zyklus vollenden. Begleitend erscheinen die rund 60 Kantaten der Bach’schen Anfänge in Leipzig auf zehn Doppel-CDs bei Hänssler Classic. Sie dokumentieren dieses ambitionierte Unterfangen der „Gaechinger Cantorey“ unter Leitung von Hans-Christoph Rademann auch abseits des Live-Erlebnisses. Der Konzertreigen von „Vision.Bach“ endet am 31. Mai 2024 in der Stuttgarter Liederhalle. Damit schließt sich dieser Kreis, der am 14. Mai 2023 eben hier begonnen hat.

Der Anspruch von Hans-Christoph Rademann (Initiator und Dirigent) und  Andreas Bomba (Projektleiter und Dramaturg) ist, mindestens, ein doppelter: Die „Gaechinger Cantorey“ möchte diese Leipziger Bach-Kantaten auf höchstem musikalischen Niveau aufführen und zugleich unterstreichen, welche inhaltliche Relevanz diese verklanglichten Textdeutungen haben. „Ich möchte mit dieser Reihe nachweisen, dass die Themen nicht verstaubt sind. Es geht ja um wesentliche Lebensfragen: den Umgang mit Geld, mit dem Nächsten, mit dem Tod. All das wird bei Bach verhandelt“, sagt Rademann. Er komme bei dieser intensiven Beschäftigung mit dem Kantatenjahrgang 1723/24 aus dem Staunen nicht heraus: „Ich bin überwältigt von der Vielfalt und in der Summe begeistert davon, wie hoch die Qualität ist.“ Es gehe ihm bei „Vision.Bach“ ähnlich wie bei der Gesamtaufführung der Werke von Heinrich Schütz mit dem Dresdner Kammerchor: „Da war kein Stück, das den Ansprüchen nicht genügt hätte. Jedes für sich ist großartig und wertvoll.“

Bach habe in seinem ersten Leipziger Jahr enorm viel ­experimentiert: beim Einbau der Chöre in die Orchestersätze („das übt er regelrecht“), bei den Chorälen („in allen Varianten“) und bei den Rezitativen: „Hier erreicht er ganz andere, meditative Sphären.“ Die erweiterte Reichweite seiner Werke im weltgewandten Leipzig schien den neuen Kantor an der Thomaskirche in seiner Schaffenskraft regelrecht beflügelt zu haben.

Fachperspektiven auf Bach

Aber Bach wäre nicht Bach, wenn es ihm nicht auch hier gelänge, den Menschen mit seiner Musik so ganz und gar zu erfassen. „Er macht den Hörer verletzlich“, sagt Rademann. Es entstehe mitunter die Emotionalität einer „gewissen Traurigkeit“. Doch Bach bringe die Gefühlswelten wieder ins Lot. „Am Ende ist da große Zuversicht.“

Bei etlichen der „Vision.Bach“-Konzerten stellt die Bachakademie der Musik einen reflektierenden Impuls voran und lädt dazu Menschen mit besonderer Expertise ein. Weil es in der Kantate „Nur jedem das Seine“ auch um eine christusbezogene Prägung geht, sprach dazu der Numismatiker (Münzkundler) Matthias Ohm. Zu „Stürmt, ihr Trübsalswetter“ war die ZDF-Meteorologin Katja Horneffer geladen.

Beim Konzert mit der Überschrift „Er stürzt die Mächtigen vom Thron“ ordnete der Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, die Aussagen des „Magnificats“ ein, jenes Lobgesangs, den die Gottesmutter Maria beim Besuch ihrer Verwandten Elisabeth anstimmt (Lukas 1, 46-55). Er sehe die Hoffnung dieses Textes in einer demokratischen Regierungs- und auch Lebensform erfüllt, sagte der Bündnis-Grüne am dritten Advent in der Stuttgarter Liederhalle. Und gab zu bedenken, dass die Herrschaft des Volkes über seine gewählten Repräsentanten „stetig in Gefahr“ sei.

Exem­plarisch verwies er auf das Gebaren des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, der ihm nicht genehme Wahlergebnisse leugne. „Wo so etwas geschieht, droht der Thron, droht die Willkürherrschaft zurückzukehren.“ Auch deshalb bleibe die in diesem Lobgesang ausgesprochene Sehnsucht höchst aktuell. Ungeachtet des auf politisch-gesellschaftliche Zusammenhänge deutbaren Textes aber sei das „Magnificat“ zuallererst ein „zutiefst religiöser Text, ein Gebet“. Es erschließe sich im Letzten „nur im Glauben“, so Kretschmann. Als katholischer Christ wies er ausdrücklich darauf hin, dass dieser „für das Christentum so zentrale Hymnus“ von einer Frau gesprochen werde. Kretschmann: „Maria empfängt eben nicht nur eine himmlische Botschaft, sondern sie deutet das Geschehen theologisch.“

Das demokratische Prinzip, das der Ministerpräsident im „Magnificat“ wahrgenommen hat, spiegelt sich im durchgängigen ­Aufführungsprinzip der „Gaechinger Cantorey“: Für die Solopartien treten die einzelnen Sängerinnen und Sänger aus dem Chor heraus, sind Gleiche unter Gleichen. Im Verbund mit Bachs Kunst, Frauen- und Männerstimmen mit den instrumentalen Klängen aufs Köstlichste miteinander zu verweben, formt sich ein musikalisch-theatrales Bild aus einem Guss und von hoher Intensität. Und das fasst an, es ergreift.

Johann Sebastian Bach freilich war keiner, der auf politischen Umsturz aus gewesen wäre. „Bei ihm kommt die Obrigkeit relativ gut weg, er sieht sie ja als von Gottes Gnaden eingesetzt“, erläutert Rademann im Interview. Allerdings sei das Koordinatensystem des barocken Meisters klar: „Es gibt für ihn nur den einen Höchsten.“

Von: Claudia Irle-Utsch

Dieser Text erschien zuerst in Ausgabe 1/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO. Bestellen Sie PRO kostenlos hier.

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