Historiker: Kirchenaustritte als Folge der deutschen Diktaturen

Warum verlieren Kirchen Mitglieder? Neben Skandalen und Glaubensverlust hat der Historiker Thomas Großbölting eine weitere Erklärung: Die Nazi-Diktatur und das SED-Regime.
Von Johannes Blöcher-Weil
Der Historiker Thomas Großbölting

Wenn sich die aktuellen Zahlen bestätigen, sind schon im übernächsten Jahr mehr als die Hälfte der Deutschen keine Kirchenmitglieder mehr. In den letzten drei bis vier Generationen habe es eine „tiefgreifende Entkirchlichung“ in Deutschland gegeben, bilanziert der Historiker Thomas Großbölting im Interview der Katholischen Nachrichtenagentur (KNA).

Die Glaubensüberzeugungen gingen seit den 1950er Jahren immer weiter zurück: „Die Skandale sorgen für zusätzliche Ausschläge in einem kontinuierlichen Trend“, sagt Großbölting. Dabei bezeichnet der Historiker die Entwicklung als deutsche Besonderheit. In vielen Teilen der Welt seien Religionen und religiöse Praktiken weiterhin attraktiv.

In Deutschland hätten auch die beiden Diktaturen des 20. Jahrhunderts ihre Spuren hinterlassen: zum einen der Nationalsozialismus als „durchaus pseudoreligiöse Bewegung mit Heils- und Erlösungsversprechungen“, zum anderen das SED-Regime, das Kirchen und Religion erfolgreich zurückgedrängt habe.

Austritte mit Abkehr von Glaubensinhalten erklärbar

Nach dem Zweiten Weltkrieg habe man erfolglos versucht, den Zusammenbruch vor 1945 durch die Rückbesinnung auf das Christentum zu überwinden. Die Sexualnormen der Kirche seien aber immer weniger akzeptiert worden und hätten die Austrittswelle befördert: „Die zunehmenden Austritte seit dem Ende der 1960er Jahre sind vor allem mit der inneren Abkehr von Glaubensinhalten zuvor erklärbar.“

Auch die enge Bindung von Staat und Kirche habe sich als kontraproduktiv erwiesen. Durch eine stark normierte Religiosität habe sich kaum eine christliche religiöse Praxis und andere Formen von Religiosität entwickeln können. Nach der Wiedervereinigung habe man das Modell der engen Kooperation von Staat und Kirche fast komplett auf den Osten übertragen.

Im Laufe der Zeit seien das kirchliche Arbeitsrecht, die Sitze in den Rundfunkräten oder die historischen Staatsleistungen an die beiden großen Kirchen in Frage gestellt worden. In der jüngeren Geschichte hätten auch die Missbrauchsskandale dafür gesorgt, dass das hohe moralische Kapital der Kirchen durch Misstrauen ersetzt wurde.

„Spätestens die Kinder treten aus der Kirche aus“

Der Historiker sieht eine abnehmende Minderheit, die an zentralen Glaubensinhalten festhalte. Viele würden die Kirchen als Heimat empfinden oder aus Gewohnheit nicht austreten, weil sie um ihre christliche Beerdigung fürchteten. Wer sich von der Kirche abwende und dann formal austrete, kehre dann oft der christlichen Kulturtradition den Rücken. Es gelinge Eltern häufig nicht mehr, ihren Kindern eine Nähe zu Kirche und Religion zu vermitteln: „Spätestens die Kinder treten dann aus.“

Thomas Großbölting ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Hamburg. Er hat unter anderem das Buch „Der verlorene Himmel“ veröffentlicht, in dem er die Geschichte des Christentums in Deutschland seit 1945 erforscht hat.

Helfen Sie PRO mit einer Spende
Bei PRO sind alle Artikel frei zugänglich und kostenlos - und das soll auch so bleiben. PRO finanziert sich durch freiwillige Spenden. Unterstützen Sie jetzt PRO mit Ihrer Spende.

Ihre Nachricht an die Redaktion

Sie haben Fragen, Kritik, Lob oder Anregungen? Dann schreiben Sie gerne eine Nachricht direkt an die PRO-Redaktion.

8 Antworten

  1. „Warum verlieren Kirchen Mitglieder?“
    Nicht zu vergessen ,wohl auch der Inhalt dessen was von den Kanzeln gepredigt wird !

    0
    0
    1. Herr Pflüger, wenn Sie differenzieren —. Und nicht verallgemeinern würden, könnte ich Ihnen zustimmen.
      GOTT SEI DANK gibt e s noch „ unzählige“ Pfarrerinnen und Pfarrer, die reines, biblisches Evangelium ( von den Kanzeln“, wie Sie schreiben) predigen.

      0
      0
      1. Unzählige Pfarrer gibt es?
        In jeder Statistik diesbezüglich stehen sehr konkrete Zahlen. „Reines Evangelium“ ? Wer legt fest, was die reine Lehre ist? Ein solches Amt oder Gremium gibt es doch in der Evangelischen Kirche gar nicht. Schon in den verschiedenen Ausrichtungen (lutherisch, reformiert, uniert, freikirchlich usw.) bestehen in der Lehre nicht unerhebliche Unterschiede. Und ja: Die Predigten sind leider oft mehr als dürftig. Ich werde deswegen nicht aus der Kirche austreten, aber erbauen tun sie mich leider nur ganz selten.

        0
        0
    2. Vor Allem dieser theologische Liberalismus ist eine Katastrophe. Dadurch wird das Wort Gottes immer unglaubwürdiger. Und dieser Synkretismus wie z.B.: Das sog. House of One. Der Islam ist eine schlimme Irrlehre, da er die Göttlichkeit Jesu und die Kreuzigung leugnet!!

      0
      0
  2. Preußentalar mit Bartschutz (Beffchen), in welchem Jahrhundert lebt denn die EKD?
    Die Liturgie erinnert mich an das Abfragen in der Schule und wer will sich schon beherrschen lassen?

    Nicht jeder, der ein geistliches Amt ausübt, ist von Jesus Christus berufen.
    Manch einer wollte Medizin, Jura usw. studieren und hat keinen Studienplatz bekommen und dann Theologie studiert.
    Bei anderen war das Motiv, dass man als Pfarrer ja nicht einer Aufsicht und den Anforderungen wie in einem Wirtschaftsunternehmen unterliegt…
    Andere wollten ein sicheres Einkommen und nichts für ihre Altersvorsorge einzahlen.

    Wie viele Pfarrer glauben überhaupt an die wesentlichen Aussagen der Bibel?
    Es ist eben sehr bequem, den Glauben nur ein bisschen zu verwalten. Aber laue Christen wird Jesus aus Seinem Mund ausspucken (Offenbarung 3,14-22)

    Haben Sie sich mal über Mobbing in der Kirche Informiert?

    0
    0
    1. Ich persönlich empfinde den Talar als große Hilfe, z.B. da ich nicht – wie in manchen Freikirchen – viel Zeit mit der Kleidungsordnung aufwenden muss. Darüber hinaus wird das Amt durch die Amtstracht erkennbar. Auch in Fußballstadien gibt es Wechselgesänge und dort wird dies auch nicht als Vorgang der Obrigkeit angesehen, wenngleich die Einheizer tw. vom Verein bezahlt werden. Auf die anderen großen Fässer werde ich nicht eingehen.

      0
      0
  3. Es geht vielen zu gut und meinen sie brauchen keinen Gott und schon garnicht eine Kirche.
    Wahr schon zu Zeiten Moses so. Siehe Goldenes Kalb.

    0
    0
  4. Ich komme aus der DDR, ich habe es als Kind und Jugendlicher erfahren, wie atheistische Lehrer, bzw. atheistisch eingestellte Menschen das Christentum, die Kirchen und den christlichen Glauben verunglimpft haben. Das hat aber damals nur dazu geführt, mich fester mit meinem Glauben und meiner Kirche verbunden zu fühlen. Das sozialistische Regime war also kein Grund mich von der Kirche abzuwenden. Das haben die Kirchenprofis geschafft. Ich bin der Meinung, dass niemand dem christlichen Glauben und den Kirchen so gefährlich werden kann, wie eben jene kirchlichen Führungspersönlichkeiten. Der coole Spruch des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehman, angesprochen auf die vielen Kirchenaustritte: Dann last sie halt austreten, dann werden wir eine kleine schlagkräftige Truppe! , hat mich zur Abkehr von dieser Kirche veranlasst. Darüber hinaus stelle ich in Folge des Missbrauchsskandals fest, dass nun Werte, die die Kirche über Jahrhunderte propagiert und durchgesetzt hat dem Belieben feil geboten werden. Galt über Jahrhunderte, dass es der Wille Gottes war, zumindest laut Bibel, dass die Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlossen werden kann, so geraten diese Vorstellungen unter Druck und werden durch neue ersetzt. Nun sollen auch die Verbindungen von zwei Männern oder auch zwei Frauen, den gleichen Status erhalten können. Dies stellt den Beginn einer weiteren Entwicklung dar, den ich gar nicht weiter denken möchte. Es wird noch nicht einmal vor Gott halt gemacht, es gibt Bestrebungen, ihn nur in Verbindung mit dem * Zeichen zur verwenden. Was kommt noch?

    0
    0

Offline, Inhalt evtl. nicht aktuell

PRO-App installieren
und nichts mehr verpassen

So geht's:

1.  Auf „Teilen“ tippen
2. „Zum Home-Bildschirm“ wählen