Der weiße Fleck auf dem schwarzen Pelz

Früher prügelte er sich mit Fußballrockern, heute spricht er mit Jugendlichen über die Bibel. Über einen Mann, der mit dem Wolf kämpfte, seine Schafe „meine Mädels“ nennt – und der im Beisein seiner Herde zu Gott gefunden hat.
Von Nicolai Franz
Hirte Thorsten Schmale mit seinen Schafen auf einer Wiese

Abenddämmerung, kurz vor Feierabend. Thorsten Schmale stutzt. Etwas ist anders heute. Die Schafe sind unruhig, stehen dicht gedrängt in der Ecke der Weide, blöken durcheinander. Der Hirte versteht zunächst nicht. Dann steht er vor ihm: Ein Wolf. Schmale, die Herde im Rücken, bäumt sich auf, macht drei Schritte auf das Tier zu, der Wolf macht drei Schritte zurück. Er ist wohl noch jung. Aber gefährlich. Der Hirte ist das einzige, was den Wolf noch von der Herde trennt. Doch Schmale ist unbewaffnet. Keine gute Idee gegen ein Raubtier. Also zum Auto, wenigstens einen Knüppel holen. Doch immer, wenn sich Schmale Richtung Fahrzeug bewegt, nähert sich der Wolf wieder der Herde. Schließlich gelingt es ihm doch, den Knüppel zu holen.

„Und dann bin ich auf ihn.“ Zum Kampf kommt es nicht, aber es gelingt, den Wolf so weit zu verscheuchen, dass Schmale ins Auto springen kann. Er lässt den Motor seines Land Rovers aufheulen, gibt Vollgas. „Da hat er kapiert, dass jetzt Ende ist.“ Der Wolf flieht Richtung Wald, schlägt Haken. Schmale rast mit dem Auto hinter ihm her, zwei Kilometer, wie er sagt. Er ruft Bekannte an, die ihm helfen, die völlig verängstigten Schafe im Halbdunkel in den Stall zu bringen. Endlich in Sicherheit.

Zwei Jahre ist das her, doch Thorsten Schmale erzählt immer noch davon, als habe er ihn erst gestern verjagt. PRO trifft den bärtigen Hirten bei seinen Schafen in der Nähe des hessischen Aartalsees. Er trägt eine schwarze Sweat-Jacke, Basecap mit Bio-Emblem – Schmale ist Bio-Landwirt – und einen Hirtenstab. Zwei Hütehunde kümmern sich um die Schafe. Wobei vor allem „Flitzi“ seinem Namen alle Ehre macht und wie wild um die Herde herumrennt. „Renn nicht so viel, sonst kriegst du gleich wieder Durst, und wir kommen an keinem Bach vorbei“, ruft er dem altdeutschen Hütehund hinterher.

Schmale liebt seine Tiere. Das wird schon an seiner Sprache deutlich. Die Hunde sind seine „Mitarbeiter“, seine Schafe nennt er „meine Mädels“ oder gar „Kinder“. Die Heidschnucken heißen „Heidi“, die Walliser „Waltraud I“ und „Waltraud II“, es gibt die „Bergis“, „Paulinchen“, „Frau Schwarzohr“, „Frau Klitschko“ und viele andere. Die alten Schafe heißen „Oma Weiß“, „Oma Fuchs“ und „Methusalem“. Methusalem ist ein weibliches Schaf, und es hat Schmale schon viele Lämmer geboren. Es läuft nicht mehr gut, und wenn Methusalem unter Mühen aufsteht, wirkt das wie bei einer menschlichen Seniorin. Der Hirte ist ihr dankbar. Deswegen darf sie weiter zur Herde gehören, auch wenn sie längst keinen Profit mehr abwirft, ans Schlachten denkt er nicht einmal. Auf ihr Fell hat Schmale ihr ein rotes Herz aufgesprüht.

Kein Wunder, wie betrübt Schmale ist, wenn er eines seiner Mädels nicht beschützen kann. Drei Wochen nach der Wolfsbegegnung hatte er abends gerade mit dem Hauskreis gegrillt, da zog es den Hirten auf die Weide. Ein Bauchgefühl. „Mein Herdenschutzhund, der bei den Ziegen stand, hatte Schaum vor dem Mund, die Schafherde war auseinander getrieben.“ Selbst am Waldrand standen Schafe. Schmale pfiff die Herde zusammen, langsam versammelten sich die Schafe wieder um ihn und blökten. „Es war ein richtig vorwurfsvolles ‚Mäh‘.“ Als ob sie sagen wollten: Warum hast du nicht auf uns aufgepasst? Viele fehlen.

Schmale fühlte sich mies.

Er rief seine Kumpels an, sie kamen sofort. Das ganze Tal war mit Scheinwerfern ausgeleuchtet. Jedes einzelne Schaf brachten sie in den Stall. Vor Panik rannten sie gegen die Wand. Schmale zählte durch, einmal, zweimal. „Aber ein Lamm fehlte.“ Er klingt betrübt. Das Lamm war wahrscheinlich das langsamste der Herde, der Wolf konnte es noch holen, bevor es in die Nähe des wuchtigen Herdenschutzhundes, eines Šarplaninacs, fliehen konnte.

„Der kann einen Wolf platt machen, auch wenn er dabei verletzt wird.“ Der Wolf konnte rechtzeitig entkommen. „Es gibt viel mehr Wölfe in unserer Gegend, als offiziell zugegeben wird“, ist der Hirte überzeugt.

Schafe Foto: PRO/Nicolai Franz
„Meine Mädels“: Die meisten von Schmales Schafen sind weiblich.

Auf der Rückseite seiner Jacke ist ein Aufdruck: „In der Schöpfung – mit der Schöpfung – Schafzucht Schmale.“ Er ist Christ, und seine Schafe haben ihm auf seinen Weg zu Gott geholfen. Bis dahin war es ein weiter Weg. Seit 18 Jahren hält Thorsten Schmale Schafe, heute ist er 43. Körperlich geht es ihm nicht gut. „Ich bin ein Wrack“, sagt er. Vor zwei Jahren hatte er einen Schlaganfall, vor vier Jahren einen kleinen Herzinfarkt, dazu leidet er an Borreliose und Arthrose. „Schnupfen lohnt sich nicht bei mir.“ Er nimmt es mit Humor.

Prügeln, was das Zeug hält

Zu den Schafen kam er über seine erste Frau. Sie wollte aufs Land – und ein Pferd. „Ich sagte ihr: Wenn du ein Pferd kriegst, hole ich mir Schafe.“ Über die Jahre wuchs die Herde auf 450 Schafe, zum Teil ersetzte er sie später mit Kühen.

Schmale war damals noch weit entfernt vom jesusgläubigen Bio-Landwirt mit dem sanften Lächeln. Bomberjacke von Lonsdale, Stiefel, harte Freunde. Rechts sei er nicht gewesen, sondern „old school skin“ und Fußballrocker. „Mit Linken haben wir uns genauso geprügelt wie mit Rechten.“ Saufen, prügeln, Fußball, das war sein Leben. Fan einer Mannschaft war er nicht, sondern von Prügel jeder Art. Mit seinen Freunden suchte er sich die Spiele aus, „in denen es die meisten Knälle gibt“, also Gewalt. Kurz vor dem Spiel entschieden sie sich für einen Fanblock.

Damals arbeitete Schmale als Krankenpfleger im Maßregelvollzug, das könnte er heute nicht mehr, zu anstrengend. „Die Knackis wurden immer jünger und aggressiver. Und mit 36 galt ich im Betrieb schon als Dinosaurier.“ Der Betrieb wurde umstrukturiert, Schmale einigte sich mit seinem Arbeitgeber gütlich. Die Landwirtschaft machte er zum Hauptberuf. Heute hat er neben den 180 Schafen noch Esel, Hühner, Ziegen und Gänse.

„Es machte nicht Bumm, und eine Taube kam und ich war fromm, nee“, erinnert sich Schmale an seine Bekehrung. Im Knast war es der gläubige Stationsarzt und vor allem der Anstaltspfarrer, über die er ins Nachdenken über Gott kam. Denn der Pfarrer musste bewacht werden. Der kräftige und kampferprobte Schmale, „der ungläubigste von allen“, sorgte für seinen Schutz. „Und wenn du dann Woche für Woche in Bibelarbeiten oder im Gottesdienst sitzt oder als Security bei Seelsorgegesprächen dabei bist, dann kriegt so ein heidnischer Panzer auf einmal Risse.“

Und so ging es weiter, Schritt für Schritt. Als der Stall fertig war, wollte er ein Richtfest feiern. Zu seinem verdutzten Vater sagte er: „Auf eine Saufparty hab’ ich keinen Bock. Wir feiern einen Gottesdienst.“ Mit dem Ortspfarrer habe er schon gesprochen. So richtig Christ war er da noch nicht. „Es war wie an einer Kreuzung: Der Blinker war gesetzt, das Lenkrad war eingeschlagen, aber ich bin noch nicht abgebogen.“

Sein Pfarrer gab ihm dann ein Buch, mit dem man die Bibel in einem Jahr durchlesen kann. Er nahm das Buch und die Bibel mit zu den Schafen, und während er sie hütete, las er darin. Die Bibel begleitete Schmale durch die Jahreszeiten, von Januar bis Dezember, oder, wie der Hirte es erlebte: „Von Arschabfrieren bis Arschabfrieren.“ Mose, Psalmen, Evangelien. „Und wenn du das als Heide jeden Tag machst und bei deinen Schafen stehst, dann wackelt’s. Und zwar richtig.“ Dann kam bei Schmale der Punkt, ab dem er sich als Christ bezeichnete, oder besser: als „Frei-Christ“, denn auf eine Konfession festlegen wollte er sich noch nicht. „Ohne meine Schafe wäre das nicht denkbar gewesen.“

Heute geht es auf Wanderung. Die Schafe strahlen eine kaum beschreibbare Ruhe aus, obwohl sie sich ständig bewegen. Kein Autolärm, nur ab und zu ein Blöken. Meist ist es die Mutter, die ihr Lämmchen ruft. „Du hast hier so viel Zeit und Ruhe, dass du automatisch ins Nachdenken kommst“, sagt Schmale. Am Beruf der Hirten hat sich seit Jahrtausenden nichts Grundlegendes geändert. In der Bibel sind sie mit die ersten Menschen, die den neugeborenen Sohn Gottes sehen durften. Eines ist klar: Zeit und Ruhe zum Nachdenken hatten sie. Vielleicht waren sie deswegen so offen für die Botschaft vom neugeborenen Retter der Welt.

Als Methusalem verschwand

Schmale setzt sich, gestützt auf den Hirtenstab, in Bewegung. Die Herde setzt sich in Bewegung. Die Schafe laben sich am saftigen Grün der Wiese, während Schmale eine Geschichte nach der anderen erzählt. Wie er drei Schafdiebe in die Flucht schlug, oder von den immer noch befreundeten Motorradrockern, mit denen er auf den Grilltreffen nun ein Tischgebet spricht, von seinen Eseln, mit denen er gerne Touren für Schulen anbietet, über die Nitratbelastung durch Überdüngung und warum es ihm wichtig ist, als Bio-Bauer die Schöpfung zu achten.

Zwei Stunden ist er schon unterwegs, die Herde ist schon fast am Nachtlager angekommen, da fällt ihm auf: Methusalem fehlt. Konnte die Alte nicht mithalten? Liegt sie irgendwo am Wegesrand? Er macht sich sofort auf die Suche. „Sie wird bestimmt wieder auftauchen“, sagt er. Der Hirte klingt trotzdem besorgt.

Schmale engagierte sich in seiner evangelisch-freikirchlichen Gemeinde zusammen mit dem Pastor im biblischen Unterricht, der in der Landeskirche Konfirmandenunterricht heißt. „Er war für das Theologische zuständig, ich für das Praktische.“ Schmale wurde von der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde im Ort eingeladen für das Weihnachts-Krippenspiel – „und irgendwann war ich drin“. Nur mit Paulus hat er es nicht so. „Das Hohelied der Liebe ist ja top, aber wenn er sagt, dass der Mann das Haupt der Frau ist, denke ich mir: Ich weiß nicht, ob Jesus das auch so sieht.“

Der tätowierte, langhaarige Hirte sah sich nun wohlbehüteten Gemeindekindern gegenüber.  Einmal stellte jemand die Frage, wie eigentlich ein Christ aussieht: Ordentlich, mit normalen Frisuren, eher unauffällig? Schmale muss grinsen, als er das erzählt. „Da saß ich, mit Bomberjacke, Stiefeln und Kapuzenpulli vom 1. FC Magdeburg.“ Er habe dann auf sich selbst gezeigt: „So sieht ein Christ aus. Man kann aussehen, wie man will. Das Herz zählt.“

Schmale hält sich für alles andere als einen Heiligen. Wenn er mit Skeptikern diskutiert, die einen schwarzen Fleck auf seiner angeblich weißen Weste suchen wollen, wie er sagt, lacht er und antwortet: „Andersrum. Ich habe eine schwarze Weste mit einem einzigen weißen Fleck drauf. Und das ist Jesus.“

Die Suche nach Methusalem geht weiter. Schmale kehrt ohne das alte Schaf zurück zur Herde, er wird es bestimmt auf dem Rückweg treffen. Doch – mitten in der Herde sieht er plötzlich das rote Herz auf Methusalems Fell. Die alte Schafdame war nur verdeckt. Gott sei Dank.

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