Zentrale Anlaufstelle für Opfer sexualisierter Gewalt in der EKD

Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie können sich zukünftig an eine unabhängige zentrale Anlaufstelle wenden. Kerstin Claus vom Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs findet, dass die Kirche keine Ahnung über die Dimension sexualisierter Gewalt in ihren Reihen hat.
Von Norbert Schäfer
Die Sprecherin des Beauftragtenrates der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs (links), und Kerstin Claus (Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs) berichten über den Stand der Maßnahmen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche

Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie können sich zukünftig an eine unabhängige zentrale Anlaufstelle wenden. Das hat die Sprecherin des Beauftragtenrates der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie, Bischöfin Kirsten Fehrs, am Dienstag in Hannover mitgeteilt. Demnach stehen ab dem 1. Juli in der „Zentralen Anlaufstelle.help“ geschulte Fachkräfte für Beratungsgespräche im geschützten Rahmen den Opfern sexualisierter Gewalt zur Verfügung. Dazu hat die EKD einen entsprechenden Vertrag mit der anerkannten Fachberatungsstelle „Pfiffigunde Heilbronn e.V.“ abgeschlossen.

Das Angebot soll die bereits in den Landeskirchen bestehenden Ansprechstellen für Opfer sexualisierter Gewalt ergänzen. „Mit der Einrichtung einer zentralen Anlaufstelle setzen wir ein Anliegen um, dessen Dringlichkeit uns Betroffene immer wieder eindrücklich geschildert haben“, sagt Fehrs am Rande eines Gespräches mit 40 Experten unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und Betroffenen sexualisierter Gewalt. Fehrs unterstrich den Willen in der EKD zur Aufklärung der sexualisierten Gewalt mittels des Elf-Punkte-Plans. „Ohne Einlösung dessen können wir nicht glaubwürdig Kirche sein“, erklärte die Bischöfin. Beratungsgespräche sollen demnach nach Terminvereinbarung erfolgen. Die Beratungsstelle unterliegt nach Angaben von Fehrs der Schweigepflicht und ist nicht strukturell mit der EKD verknüpft.

„Null-Toleranz“-Grenze als Ziel

„Die Evangelische Kirche hat im Moment keine Ahnung über die Dimension sexualisierter Gewalt in ihren Reihen gegen Kinder und Jugendliche“, sagte Kerstin Claus vom Betroffenenrat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Claus fordert deshalb eine Dunkelfeldstudie. Nach der „Null-Toleranz“-Grenze, die der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm beim Umgang mit sexualisierter Gewalt gefordert habe, müsse sich die EKD noch strecken. Claus fordert von der EKD die Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln, damit sich die Betroffenen in den Landeskirchen vernetzen können. Claus kritisierte die bislang dezentralen Stukturen zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der EKD. Sie begrüße deshalb die Einrichtung einer zentralen Auflaufstelle für die Betroffenen.

Ihrer Meinung nach sind die bislang rund 600 bekannten Fälle von sexualisierter Gewalt in den EKD-Landeskirchen „nur die Spitze des Eisbergs“. Die EKD habe ihrer Meinung nach die Aufarbeitung der Fälle nach Bekanntwerden zunächst verschlafen und stehe nun noch am Anfang des Prozesses. „Aufklärung braucht Zeit“, sagte Claus „Zeit zur Entwicklung von Standards.“ Claus bezweifelt, dass „den vielen Amtsträgern innerhalb der Kirche wirklich bewusst ist, wie wichtig diese momentanen Schritte wirklich sind und wie sehr sie unterstützt werden müssen“. Sie hält es für die Betroffenen für sehr wichtig, dass es eine bundesweite Anlaufstelle gibt und dass diese losgelöst von jeglicher kirchlicher Struktur ist. „Viele Betroffene wollten überhaupt nichts mehr mit einer Landeskirche zu tun haben“, sagte sie. Claus sieht deshalb in der zentralen Anlaufstelle einen guten Anfang. „Ich habe sehr zögerlich reagiert, als ich hörte, dass eine Terminvereinbarung getroffen werden muss“, erklärte Claus am Rande der Expertentagung. Dies entspreche nicht der spontanen Lebenswelt von Betroffenen, die sagten: „Jetzt ist der Moment und jetzt will ich etwas sagen und zwar hier und jetzt und gleich.“

„Katholisches Setting“ versus „spezifisch evangelisch“

Nach Angaben von Bischöfin Fehrs sind die Betroffenen in der EKD im Gegensatz zu Opfern in der Katholischen Kirche in der Regel 14 Jahre und älter. Dies liege vor allem an den unterschiedlichen Strukturen der Kirchen. Anders als in der Katholischen Kirche, bei der Betroffene oft Angehörige einer bestimmten Gruppe oder Schule seien, handele es sich bei den Opfern in der evangelischen Kirche meist um Einzelfälle. Sexualisierte Gewalt in evangelischen Gemeinden unterscheide sich vom „katholischen Setting“, sagte Claus. Die Betroffenen seien deutlich älter und am Anfang stehe eine intellektuelle Beziehung mit dem Pfarrer oder dem Diakon auf Augenhöhe. „Dieses Zugriffsrecht weitet sich immer stärker aus.“ Dies mache die Opfer unfähig, sich dagegen zu erwehren, weil sie diese Prozesse selbst nicht mitbekämen. Claus hält das für „spezifisch evangelisch“ und meint, es mache es den Opfern schwer, den Erkenntnisschritt zu vollziehen, selbst Missbrauch erlebt zu haben.

„Das Thema Entschädigungen muss jede Landeskirche selber regeln“, erklärte Oberkirchenrat Nikolaus Blum auf der Pressekonferenz am Dienstag. Die Katholische Kirche zahlt Opfern sexualisierter Gewalt seit 2010 mindestens 5.000 Euro als eine Art symbolischer Anerkennung für erlittenes Leid. Für die Aufarbeitung des Elf-Punkte-Handlungsplans stellt die EKD in diesem Jahr rund eine Million Euro zur Verfügung.

Im Mittelpunkt der Fachtagung im EKD-Kirchenamt stand die Konzeption einer im Rahmen des Elf-Punkte-Handlungsplans beschlossenen wissenschaftlichen Aufarbeitungsstudie. Dazu wird das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) unter der Leitung von Ingo Schäfer eine Ausschreibung vorbereiten. Die Studie soll auf lokaler und regionaler Ebene Faktoren, die sexualisierte Gewalt strukturell begünstigen, aufdecken, damit wirksame Schutz- und Präventionsmaßnahmen für Kirche und Diakonie entwickelt werden können.

Von: Norbert Schäfer

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