Durchbruch in Embryonenforschung: Menschwerdung ohne Mensch

Wissenschaftler haben eine Möglichkeit gefunden, wie menschliche Embryonen ohne Eizelle produziert werden können. Spielt der Mensch Gott? Jedenfalls hinken die Ethiker der Forschung hinterher.
Von Jörn Schumacher

Früher war alles einfach. Ein Mann und eine Frau zeugen ein Kind, und für dieses unverständliche Wunder danken sie dem Schöpfer. Heutzutage lüftet die moderne Forschung immer mehr den Vorhang des Geheimnisses hinter diesem biologischen Prozess. Die moderne Embryologie kann seit kurzem sogar Embryonen „künstlich“, das heißt: außerhalb einer Gebärmutter und ohne Entnahme einer Eizelle, heranzuzüchten. Von einer „Zeitenwende“ sprechen Genetiker, und die Ethiker müssen sich sputen, mitzuhalten.

Sommer 2022: Forscher um Magdalena Zernicka-Goetz von der Universität Cambridge teilen der Öffentlichkeit mit, sie seien nun in der Lage, aus Stammzellen von Mäusen Embryonen zusammenzusetzen. Und dazu brauchten die Forscher nicht einmal eine Eizelle oder einen Uterus. Die „Embryo-Attrappen“, wie sie die Gebilde nennen – denn von wirklichen „Embryos“ wollen sie nicht sprechen – entwickelten sich in einer Nährlösung rund acht Tage lang.

Die Entdeckung habe ein ähnliches Gewicht wie die spektakuläre Geburt des Klonschafs Dolly 1997, sagt der Biotechniker Lluís Montoliu vom spanischen Nationalen Zentrum für Biotechnologie. Fast zeitgleich meldeten Forscher um Jacob H. Hanna vom Weizmann-Institut in Haifa ähnliche Fortschritte. Hanna hatte ebenfalls in einem „künstlichen Uterus“ Embryonen-Modelle entwickelt. Ein Jahr später, im Juni 2023, war plötzlich klar: Beide Teams hatten unabhängig voneinander die neue Technik auch bereits an menschlichen Zellen getestet. Erstmals waren menschliche Embryonen künstlich, außerhalb einer Gebärmutter und ohne Eizelle erzeugt worden!

Zernicka-Goetz stellte ihre Arbeit im Juni 2023 auf einer Tagung in Boston vor, wenig später meldete die israelische Forschergruppe ähnliche Ergebnisse, kurz darauf traten weitere Teams, aus China und den USA, mit ähnlichen Forschungsergebnissen an die Öffentlichkeit. Die Vorteile liegen den Forschern zufolge auf der Hand: Da es sich nur um „Embryo-Attrappen“ handele und nicht um echte Embryonen, könnten bisherige Verbote zur Erforschung menschlicher Embryos umgangen werden.

Mit den „synthetischen“ menschlichen Embryonen sollen Versuche möglich sein, die an echten Embryonen aus ethischen Gründen verboten sind. Aber sind diese „Embryonen-Modelle“ so viel anders als die natürlichen? Diese Embryonen hätten keinerlei Potenzial, zu einer Lebendgeburt zu führen, betont Jesse Veenvliet vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik.

Doch theoretisch können diese Zellgebilde 14 Tage und länger in der Petrischale am Leben erhalten werden. Das aber ist noch immer in vielen Ländern, darunter Deutschland, verboten. Die Internationale Gesellschaft für Stammzellforschung­ (ISSCR) hatte 2016 ein Überschreiten dieser 14-Tage-Regel als unzulässige Forschungsaktivität eingestuft, 2021 allerdings passte sie ihre Leitlinien an, und die 14-Tage-Grenze kann nun durchaus überschritten werden, wenn es dem jeweiligen Forschungszweck dient – und auch nur nach strenger Prüfung. Eine Übertragung der „Embryo-Modelle“ auf eine Leihmutter ist weiterhin laut den ISSCR-Richtlinien verboten.

Menschen-Klone und Zeitenwende

Es wird überdeutlich: Ethiker und Juristen sind stärker als zuvor gefordert, mit dem atemraubenden Tempo der Embryonalforschung mitzuhalten, den Überblick zu behalten und gegebenenfalls Einschätzungen und Gesetze neu zu justieren. Die neuen Erkenntnisse sind für die Medizin von unschätzbarem Wert, das steht außer Frage. Ein Beispiel: Rund 60 Prozent der befruchteten Eizellen führen bei der natürlichen Empfängnis nicht zu einer Schwangerschaft. Allein hier besteht großer Forschungsbedarf. Ebenso können viele vermeidbare chronische und genetische Krankheiten während der frühen Entwicklung entstehen, erforscht und dank neuer embryologischen Erkenntnisse in Zukunft verhindert werden.

Eine internationale Forschergruppe um Nicolas Rivron vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien stellte im August 2023 in einem Beitrag für das Science Media Center Germany fest: Die Erforschung der menschlichen Embryologie hat globale Auswirkungen, auf die öffentliche Gesundheit, aber auch wirtschaftliche, soziale, ökologische und geopolitische.

Eine neue Methode des Klonens

Rüdiger Behr vom Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen sieht nichts anderes als eine Zeitenwende. „Neue Embryonen und damit neue Lebewesen könnten aus jeder Körperzelle entstehen“, sagt Behr. Das sei schlicht „eine neue Methode des Klonens, die ohne Keimzellen auskommt“. Und das war bislang besonders in Bezug auf Menschen „in den meisten Kulturen ein Tabu“.

Der Embryologe Michele Boiani vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster betont: „Es wäre bei dem aktuellen Kenntnisstand unverantwortlich, solche Embryonen auf Frauen zu übertragen.“ Man könnte nun aber das deutsche Embryonenschutzgesetz umgehen. Denn das bezieht sich nur auf Zellgebilde, die mithilfe einer Eizelle entstehen. Boiani warnt: „Das Verbot, Menschen zu klonen, gilt nicht mehr.“ Nils Hoppe, Professor für Ethik und Recht in den Lebenswissenschaften in Hannover, konstatiert: „Das Embryonenschutzgesetz ist hoffnungslos veraltet.“

Die neuen wissenschaftlichen Möglichkeiten erforderten neue gesetzliche Regelungen. Verbieten könne man die neuen Entwicklungen nicht – sie stellten einen viel zu wichtigen Baustein für innovative Wissenschaft dar. Ohne sie hätte es weit mehr Corona-Tote gegeben, auch Krebs sei heute sehr viel besser zu behandeln. Hoppe plädiert dafür, die aktuelle Forschung genau zu betrachten und zu begleiten – und frühzeitig rote Linien zu bedenken.

Das Ebenbild Gottes im Reagenzglas?

Die Forschergruppe um Nicolas Rivron erklärte: „Mittlerweile ist klar, dass der wissenschaftliche Fortschritt die biologischen und damit ethischen und rechtlichen Lücken zwischen Embryo-Modellen und Embryonen verringert.“ Es werde schwierig, Embryo-Modelle überhaupt noch von „natürlichen“ Embryonen zu unterscheiden. Auch der Biomediziner Michele Boiani appelliert: „Es muss endlich erkannt werden, dass die alte Definition – ein Embryo entsteht aus der Verschmelzung des Spermiums mit der Eizelle – nicht mehr zeitgemäß oder zumindest ausreichend ist.“ Er selbst würde im Übrigen am ehesten den Beginn der Bildung des Nervensystems als eine Grenze festlegen wollen, die nicht überschritten werden dürfe.

Bedeutende ethische Fragen tun sich auf. Ab wann bezeichnen wir eine Zellansammlung als Embryo? Bis wann darf man es erforschen? Wird da menschliches Leben nur als Forschungsobjekt in die Welt gesetzt? Wie groß ist die Gefahr, dass einmal auch die 14-Tage-Regel von einem Forscherteam überschritten wird oder die Einpflanzung eines Embryo(-Modells) in eine Leihmutter vorgenommen wird?

Am Ende ist es auch die Stimme von christlichen Ethikern, die hier gehört werden muss. Forschung ist wichtig, denn nur durch hinzugewonnenes Wissen können Krankheiten beseitigt und Leid gelindert oder verhindert werden – und das sollte doch auch Gottes Wille sein. Doch die Grenzen zwischen „natürlich“ und „künstlich“ verwaschen, und die Versuchung, im Labor „Gott zu spielen“, wird immer größer.

Auch wenn das bisherige, Jahrhunderte alte einfache Bild von der Menschwerdung durch eine wundersame und unerklärliche Vereinigung von Mann und Frau überholt scheint, wenn nicht einmal mehr klar definiert werden kann, ab wann ein Mensch ein Mensch ist, bleibt eines bestehen: Sollte der Mensch wirklich „nach dem Ebenbild Gottes“ erschaffen worden sein, darf er auf keinen Fall und niemals als Objekt der Verwertbarkeit beurteilt werden.

So wichtig und faszinierend die Forschung an Embryonen auch ist: Es bleibt nur hoffen, dass die Forscher die wundersame Einzigartigkeit, ja: Heiligkeit der Menschwerdung nicht aus den Augen verlieren.

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