Wohl kaum eine Wahl von Bundesverfassungsrichtern ist mit solcher Spannung erwartet worden wie die am vergangenen Freitag. Würde die Union eine Kandidatin unterstützen, die die Menschenwürde für Ungeborene infrage stellte? Am Ende gab es gar keine Wahl. Drei Fraktionen beantragten, diesen Punkt von der Tagesordnung zu nehmen, was dann auch gegen die Stimmen der AfD beschlossen wurde.
Die Initiative dafür kam von der Union, die SPD ließ sich als Koalitionspartner nach einer Sondersitzung der Fraktion darauf ein. Die Grünen zeigten sich empört über das ganze Vorgehen und beantragten ihrerseits die Absage der Wahl. Offiziell begründete die Fraktionsspitze der Union ihren Schritt damit, dass die Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf nicht über alle fachlichen Zweifel erhaben sei. Denn kurz vor der Wahl ließ der als Plagiatsjäger berüchtigte Stefan Weber verlauten, dass Brosius-Gersdorf in ihren wissenschaftlichen Arbeiten möglicherweise von ihrem Mann abgeschrieben haben könnte. Oder auch umgedreht.
Für die Union war das wohl der rettende Ausweg. Denn an dieser Kandidatin entzündete sich innerhalb der Fraktion der Unmut. Die Zahl derjenigen, die der Wahlempfehlung nicht folgen wollten, hätte die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit ins Wanken bringen können.
Linke wollen Rechtsprechung zum Lebensschutz langfristig relativieren
Grund dafür dürften aber vielmehr die inhaltlichen Positionen sein, die Brosius-Gersdorf vertritt. In einer Anhörung zur Abschaffung von Paragraf 218 erklärte sie etwa, es gebe gute Gründe dafür, „dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt“. In einer Festschrift für ihren Doktorvater Horst Dreier bezeichnete sie es als biologistisch-naturalistischen Fehlschluss, zu meinen, die Menschenwürde gelte überall, wo menschliches Leben existiere. Dreier selbst wollte sich auf dem Ticket der SPD 2008 zum Verfassungsrichter wählen lassen, was die Union ablehnte, woraufhin die SPD den späteren Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle nominierte.
Dass sich die Fraktionsführung der Union nun für ihr Rückzugsmanöver hinter einem Plagiatsverdacht versteckte, ist schwach. Es verrät aber, dass Jens Spahn als Vorsitzender die Abgeordneten in eine Sackgasse geführt hatte, weil ein beachtlicher Teil von ihnen Fraktionslinie und Gewissen nicht miteinander verbinden konnten. Wie stark dieser innere Konflikt in der Fraktion war, haben er und Friedrich Merz als Kanzler und Parteichef offenbar unterschätzt. Merz selbst antwortete bei der Regierungsbefragung vorige Woche mit einem uneingeschränkten „Ja“ auf die Frage von Beatrix von Storch (AfD), ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, Brosius-Gersdorf zu wählen.
Die SPD hat eine Kandidatin aufgestellt, die politisch polarisierende Positionen vertritt und der Union die Zustimmung schwer machen würde. Das darf als Kalkül gewertet werden: einerseits um den Koalitionspartner unter Druck zu setzen, andererseits um langfristig am höchsten deutschen Gericht Richter zu installieren, die die bisherige strenge Rechtsprechung zum Lebensschutz relativieren und damit den Interessen der linken Parteien in die Hände spielen würden.
Doch das hätte vor allem Spahn früher auffallen müssen, statt in letzter Minute mit einer vorgeschobenen Erklärung die Wahl abzusetzen. Dieses Vorgehen ist gegenüber dem Koalitionspartner nicht fair und gegenüber Brosius-Gersdorf ebenso wenig. Schließlich wurde, wie Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sagte, ihrer Fraktion von SPD und Union gemeinsam der Wahlvorschlag gemacht, der Wahlausschuss hat mit der nötigen Zwei-Drittel-Mehrheit die Kandidaten zur Wahl empfohlen, das Verfahren war korrekt.
Menschenwürde ist zentral für christliches Menschenbild
Freilich würde es Brosius-Gersdorf als potenzieller Verfassungsrichterin nicht gerecht, sie auf ihre Position zum Lebensrecht zu reduzieren. Schließlich wird sich das höchste Gericht auch mit sehr vielen anderen Themen beschäftigen. Außerdem würde sie nicht allein urteilen.
Doch in diesem Fall stellt sich die Frage, wie glaubwürdig Partei- und Fraktionsspitzen die Werte der Union verkörpern, wenn sie die Frage des Lebensrechts bei einer so wichtigen Personalie als Verhandlungsmasse in die Waagschale werfen. Was zeichnet das christliche Menschenbild aus, für das die Partei mit ihrem Namen steht, wenn nicht die unhinterfragbare Würde des Menschen vom Anfang bis zum Ende? Dass die Union bereit ist, das zur Debatte zu stellen, um eine Mehrheit mit linken Parteien zu erzielen, ist schwer zu vermitteln. Zumal, wenn Kanzler Merz vor der Wahl einen Politikwechsel versprochen hat.
Das Argument, eine Mehrheit muss um jeden Preis ohne die AfD möglich sein, weil sonst die Demokratie am Ende ist, führt genau zum Gegenteil. Denn die Union macht sich nicht glaubwürdiger und für Konservative wählbarer dadurch, dass sie Zweifel an ihren Grundwerten aufkommen lässt. Stattdessen lässt sie sich von den linken Parteien unter Druck setzen und von der AfD vor sich her treiben. AfD-Mann Bernd Baumann wollte die Wahl am Freitag mit seiner Fraktion durchziehen, denn, wie er in der Debatte vor der Abstimmung sagte: „Wir wollen wissen, wo die Union steht.“ Das wüssten wahrscheinlich auch viele Wähler gern.
Diese Vorgänge lassen befürchten, dass die Fragen um das Lebensrecht und um Abtreibung zunehmend zum Vehikel für ideologisch-politische Kämpfe wird. Wenn es die Christdemokraten nicht schaffen, gegen den Druck von links überzeugend ihr christliches Menschenbild mit dem Schutz des Lebens von Anfang an in Verbindung zu bringen, wird sich die AfD als Hüterin der Menschenwürde inszenieren können. Insofern kann die Union dankbar sein für die Abgeordneten, denen ihre Werte wichtiger waren als die Fraktionsdisziplin.