Meinung

Der Protest der Gnade

Der Theologe Jürgen Mette hat ein kritisch-wertschätzendes Buch über seine geistliche Heimat, den Evangelikalismus, geschrieben. „Die Evangelikalen“ überzeugt mit einer erfrischend gnädigen Perspektive jenseits theologischer Frontstellungen.
Von PRO
Jürgen Mette schätzt das klare Profil der Evangelikalen, wünscht sich aber einen gnädigeren Umgang miteinander

„Etwas zu kritisieren, was man nicht mag, bedarf keiner besonderen Anstrengung. Sich aber kritisch mit denen zu beschäftigen, die man liebt und schätzt, das bedarf mancher Mühe und Geduld. Ein Balanceakt kritischer Dankbarkeit.“

So gibt Jürgen Mette – Theologe, pro-Kolumnist und evangelikaler Szene-Kenner – die Zielsetzung seines neuen Buches aus. Mühe und Geduld haben sich gelohnt: „Die Evangelikalen“ ist ein beeindruckend ehrliches Brückenbauprojekt jenseits konfessioneller Schubladen-Klischees geworden. Es zeichnet den Weg eines ehrlichen Christen und theologischen Denkers mit einer Bewegung nach, die – wie es der Untertitel sagt – „weder einzig noch artig“, aber dafür einzigartig ist. Die Evangelikalen, so viel macht Mette direkt zu Beginn klar, sind weder die einzig wahren Christen, noch sind sie eine in sich harmonische Bewegung. Im Gegenteil: An Fragen wie der Sexualethik spaltet sich das evangelikale Lager, über sie wird „unartig“ gestritten.

Eine der stärksten Thesen des Buches ist, dass die Meinungsvielfalt im evangelikalen Lager keine Schwäche, sondern eine Chance ist. Mutig begibt sich Mette auf Konfrontationskurs mit selbsternannten „Wächtern des wahren Glaubens“ – und prognostiziert zu Recht in seinem humorvollen und kritisch-schneidenden Stil: „Für dieses Buch werden einige mir Blumen zuwerfen, an denen die Töpfe noch dranhängen.“ Dass der Autor das ahnt, in Kauf nimmt und man ihm die Liebe zu den Werfern trotzdem abspürt, das macht dieses Buch so besonders.

Die Evangelikalen in der Klischee-Krise

Worum geht es also? Um die Evangelikalen: Wer sie sind, was ihnen wichtig ist, wo ihre Stärken liegen und woran sie kranken, um ihre Theologie und ihre Frömmigkeit. Mette macht dabei klar: Er ist selbst einer von ihnen, es geht um – so der zweite Untertitel des Buches – „eine biographisch-theologische Innenansicht“ jenseits von Klischees. Mit denen aufzuräumen, darum geht es auf den ersten rund 50 Seiten. So schreibt Mette etwa: „Wenn […] die Tochter Billy Grahams in Endzeitsorge eine Sonnenfinsternis als Zeichen des Gerichts Gottes deutet, dann schäme ich mich fremd. Aber ich bringe es nicht fertig, mich generell von diesem Frömmigkeitstyp zu distanzieren. Ich bin tatsächlich ein Evangelikaler, ein wertkonservativer engagierter Christ. Wenn das bereits evangelikal ist, dann bin ich gern evangelikal. Alle weiteren Spezifikationen wie konservativ, fundamentalistisch, rechts, links oder traditionell brauche ich nicht, weil ich mich in diesen Klischees nicht wiederfinde.“

Das grundlegende Problem mit der evangelikalen Selbst- und Fremdwahrnehmung bringt Mette auf den Punkt, indem er den Autoren und Journalisten Andreas Malessa zitiert: „Wenn man die Presse verfolgt und auch die eigene evangelikale Presse, dann kommt man leider auf die Faustformel: Evangelikal – das bedeutet ‚Gott schuf die Welt in sechs Tagen‘, ‚Frauen gehören nicht auf die Kanzel‘ und ‚Kinder nicht in die Kita‘ und ‚Schwule nicht in die Kirche‘ und ‚Muslime nicht zu Deutschland‘. Das ist so ein holzschnittartiges Programm geworden, das aber nicht der evangelikalen Gemeindewirklichkeit entspricht.“

Gegen das Schubladendenken

Nach der Grunddiagnose führt Mette eine scharfe und treffende Analyse verschiedener evangelikaler Milieus und ihrer theologischen Schwerpunkte durch. Den Evangelikalen sind demzufolge bestimmte Dinge wichtig: Die eigene Glaubensentscheidung etwa, oder die Autorität der Bibel. Ihr theologisches Profil ist eine Stärke. Doch der größte Feind, so Mette, heißt Lager- und Schubladendenken. Die Evangelikalen sind eine Protestbewegung. Sie protestieren – zu Recht – gegen die Verwässerung des Evangeliums und die Beliebigkeit der Ethik. Doch bei so viel Protest – auch und gerade untereinander – bleibt die Gnade auf der Strecke. Immer kleinere und exklusivere Gruppen meinen, die Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Daher leidet die Kirche evangelikaler Prägung an „altersbedingtem Gelenkverschleiß“. Aus dieser Diagnose ergibt sich Mettes Programm:

„Bevor die Kirche aus der Gnade lebt und diese Gnade proklamiert und praktiziert, muss sie die Gnadenlosigkeit in den eignen Reihen durch Gnade überwinden und gesund werden. Das ist meine Ambition und Motivation. Die Diagnose des Patienten Kirche ist ernüchternd, aber sie treibt an. Das erklärt die Notwendigkeit (Not abwendende Wendigkeit) dieses Buches: den kardiologischen und orthopädischen Befund einer chronisch hartleibigen Kirche zu erkennen und zur Gesundung des Leibes Christi beizutragen. Das Not-wendende Heilmittel heißt Gnade und Versöhnung. Wo Jesus Christus ist, da ist immer Gnade.“

Für mehr Gnade im Streit

Mit diesem gnädigen Heilungsprozess ist Mette den Rest des Buches über beschäftigt – sowohl er selbst als auch die insgesamt acht Gastautoren. Darunter ist auch eine Autorin: Gisa Bauer ist wissenschaftliche Expertin für den Evangelikalismus und diejenige, die sich am stärksten aus der wissenschaftlich-neutralen Außenperspektive annähert. Die anderen kommen allesamt aus verschiedensten Ecken des evangelikalen Lagers. Jenseits ausgetretener Pfade reflektieren sie gewinnbringend diverse Perspektiven und Aufreger ihrer Bewegung. So votiert etwa der Kasseler praktische Theologe Tobias Faix dafür, die Meinungspluralität im evangelikalen Lager zu begrüßen. Heinrich Derksen, Leiter des Bibelseminars Bonn, denkt nach über das „verborgene Potential Russlanddeutscher Gemeinden“, die auch zum Evangelikalismus zählen.

Der Marburger systematische Theologe Thorsten Dietz erzählt seine (evangelikale) Geschichte mit der historisch-kritischen Bibelauslegung – es ist keine, die nur von Ablehnung geprägt wäre. Erfrischend offen geht Dietz mit dem Thema um, ohne dabei Zugeständnisse an Ideologen auf beiden Seiten zu machen: „Der Ausdruck ,historisch-kritisch‘ ist teilweise auf beiden Seiten zum Popanz gemacht geworden. Sowohl das empathische Bekenntnis wie die grundsätzliche Ablehnung dieser Wortkombination stehen bisweilen für eine Ideologisierung der Bibeldebatten. […] Wissenschaftliche Bibelauslegung kann befreiend sein, hilfreich und anregend. Und zugleich lebt sie davon, dass Glaubensgemeinschaften die Bibel ernst genug nehmen, um noch wirklich an den Aussagen der Bibel in ihrer Zeit und an ihrer Bedeutung für unsere Zeit interessiert zu sein. Es wäre an der Zeit, dieses Thema jenseits der klassischen Grabenkämpfe noch einmal ganz neu zu diskutieren.“ So artikuliert sich bei Dietz wie bei den anderen Gastautoren die Perspektive der Gnade, die Mette dem evangelikalen Diskurs dankenswerterweise einimpft.

Hoffnungsvolle Zukunftsperspektiven

Bei vielen evangelikalen Aufregerthemen zeichnet Mette die Perspektive der Gnade selbst: Er schreibt über sein Bibelverständnis, über das Verhältnis zum Islam, über Homosexualität. Auch das heiße Eisen der Vereinnahmung der Evangelikalen durch den politischen Rechtspopulismus packt er an – und erteilt ihm trotz aller Gnade eine entschiedene und wichtige Absage. Bei all diesen Themen nimmt er die Aussagen der Bibel ernst, plädiert aber gleichzeitig im Umgang mit den Menschen für Barmherzigkeit und warnt vor vorschnellen absoluten Wahrheitsansprüchen.

Das alles und noch einiges mehr behandelt Mette in seinem Buch. Den Abschluss machen Wünsche und Prognosen für die Zukunft der Kirchen (nicht nur) evangelikaler Prägung. Wenn die Evangelikalen Spaltungen überwinden, stehen die besten Zeiten noch bevor, so Mette. Sofern sie seine Worte ernst nehmen und sich auf ihre Wurzeln als gnädige Protestbewegung besinnen, könnte die Gestaltung der Zukunft gelingen.

Jürgen Mette: „Weder einzig noch artig. Eine biografisch-theologische Innenansicht“, Gerth, 256 Seiten, 18 Euro, EAN/ISBN 9783957345486

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Eine Antwort

  1. Das Buch hat prinzipiell wichtige Themen zu bieten.
    Warum aber verkomplizieren wir in 256 Seiten, das was man in in ein paar Zitaten sagen kann?

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