„Alle Menschen sind von Gott geliebte Meisterwerke“

Der Verein „Herzwerk“ hilft ehemaligen Prostituierten in einem Projekt, einen sicheren Arbeitsplatz abseits des Rotlichtmilieus zu finden. Julia Obergfell von „Herzwerk“ findet es besonders wichtig, dass sich auch christliche Arbeitgeber engagieren.
Von Swanhild Brenneke
Prostitution

PRO: Worum geht es beim „EVI“-Projekt genau?

Julia Obergfell: Unser Projekt richtet sich an Betroffene geschlechtsspezifischer Gewalt in der Prostitution, die nach gelungenem Ausstieg von uns bei der Jobsuche begleitet werden. „EVI“ steht dabei für „Empowerment through vocational Integration“, also der Stärkung von Betroffenen durch einen beruflichen Neustart in einem sicheren Arbeitsumfeld jenseits des Milieus.

Viele unserer KlientInnen haben dabei vielfältige Hürden zu nehmen: Viele leiden unter den Folgen der erlebten Gewalt, was sich unter anderem in gesundheitlichen Problemen, Schlafstörungen, Panikattacken, Flashbacks, sozialen Ängsten, Schulden und Angst vor unbekannten Umgebungen äußern kann. Hinzukommt, dass die meisten Personen in der Prostitution Migrantinnen sind, wo dann zunächst Aufenthaltsstatus und Rechtliches abgeklärt werden müssen. Diese Hürden zu senken und gemeinsam mit einem Netzwerk von Arbeitgebenden zu überwinden – das ist unser Projektanliegen.

Wie wird „EVI“ angenommen wird? Was sind Ihre Erfahrungen?

Im Zentrum von „EVI“ steht die Idee, Betroffene bestmöglich auf einen Neueinstieg am Arbeitsmarkt vorzubereiten und gleichzeitig mit Arbeitgebern ein sicheres Netz von Jobmöglichkeiten aufzubauen. Bislang sind unsere Erfahrungen positiv: Die KlientInnen schätzen unsere Beratung und Begleitung enorm. Viele sind mit den klassischen Wegen über Jobcenter und eigenständiger Bewerbung am Anfang überfordert. Hier schlagen wir mit unserem Angebot eine zusätzliche Brücke zu Arbeitgebern, die gewillt sind, die „Extrameile“ mit uns zu gehen.

Die Firmen und Organisationen, die wir bislang angesprochen haben, sind dabei sehr verständnisvoll und hilfsbereit. Natürlich muss man dann immer im Einzelfall schauen, was möglich ist. Viele Klientinnen starten erstmal mit einer niedrigschwelligen Teilzeitstelle in der Hotellerie oder Reinigung. Wenn eine höhere Bildung und genügend Deutschkenntnisse vorliegen, ist aber auch eine Ausbildung möglich. Parallel schauen wir, dass die Klientinnen ihre Sprach- und Selbstkompetenzen ausbauen können.

Das Wichtigste ist für uns, dass sie sich bei allen Schritten sicher fühlen und Entscheidungen selbst treffen. Viele Betroffene haben Unglaubliches überlebt und eine ausgeprägte Widerstandsfähigkeit. Gleichzeitig schätzen sie unsere Begleitung auf ihrem neuen Weg.

Wer führt das Projekt durch und von dem wurde es initiiert?

Hinter dem Projekt stehen fünf Vereine aus Deutschland und Österreich: „Gemeinsam gegen Menschenhandel“ (Berlin), „The Justice Project“ (Karlsruhe), „Parakaleo“ (Nürnberg) sowie „Hope for the Future“ (Wien) und „Herzwerk“ (Wien). Wir alle arbeiten seit vielen Jahren mit Betroffenen und Aussteigerinnen. Die Begleitung bei der beruflichen Neuorientierung ist dabei eines unserer Kernanliegen. Hierzu tauschen wir uns auch untereinander und mit anderen Vereinen im deutschsprachigen Raum regelmäßig aus, um Betroffene bestmöglich beraten und begleiten zu können.

Seit wann und wie lange läuft das Projekt?

Unser von der EU gefördertes Projekt läuft seit Beginn 2022 und endet dieses Jahr im Herbst mit unserer Abschlusskonferenz am 21. September in Nürnberg.

„Gemeinden können einen Schutzraum bieten.“

Sie wollen christliche Arbeitgeber und Gemeinden für das Projekt sensibilisieren. Warum halten Sie es für wichtig, dass sich speziell Christen engagieren?

Wir sehen eine wunderbare Möglichkeit in der Zusammenarbeit mit Gemeinden und christlichen Arbeitgebern: Viele von ihnen fühlen sich dem diakonischen Dienst in ihrem Umfeld verbunden und bei „EVI“ kann aus diesem Gefühl gelebte Praxis werden. Unser Traum ist, dass in vielen Städten „EVI“-Netzwerke entstehen. Arbeitgeber können dabei Türen für Jobmöglichkeiten öffnen und Gemeinden einen Schutzraum bieten, in welchem positive Beziehungserfahrungen möglich werden. Dies im deutschsprachigen Raum wachsen zu sehen, wäre ein Stück Himmel auf Erden.

Wie können Werke oder Gemeinden konkret helfen?

Am besten geht dies in der direkten Zusammenarbeit mit Vereinen und Gruppen vor Ort, die mit Betroffenen arbeiten – um dann gemeinsam zu schauen, was der Zielgruppe am besten dient. Die zwei größten Bedürfnisse sind meist leistbarer Wohnraum und eine sichere Arbeitsstelle. Aber auch, wenn eine Gemeinde hierbei nicht unmittelbar helfen kann, gibt es weitere Möglichkeiten: Unterstützung in Form von regelmäßigen Gebetszeiten, Spendenaktionen oder auch ehrenamtliche Mitarbeit – sei es vor Ort oder auch remote – ist ein riesengroßer Segen. Am besten einfach Ausschau halten, ob es im eigenen Ort Bedarf gibt und Augen, Ohren und Herzen offen halten.

Auf der „EVI“-Website wird auch die Schulung von Arbeitgebern erwähnt, die Aussteigerinnen aus der Prostitution einstellen. Was sind die Herausforderungen für Arbeitgeber?

Da sich das „EVI“-Projekt auf ehemalige Betroffene von Gewalt konzentriert, ist uns der traumasensible Umgang am Arbeitsplatz ein großes Anliegen. „Traumasensibel“ bedeutet dabei, dass Vorgesetzte und Teams gewisse Kenntnisse und Kompetenzen besitzen, die sie in der Zusammenarbeit mit Betroffenen im Arbeitsalltag anwenden können. Das klingt vielleicht komplizierter als es ist: Häufig ist schon hilfreich, wenn zum Beispiel äußere Sicherheit gewährleistet wird, ein freundlicher Umgangston und die „Annahme des guten Grundes“, die besagt, dass es für jegliches Verhalten einen guten Grund gibt – auch, wenn mir selbst das Verhalten des Gegenübers zunächst seltsam erscheint.

Bei unserer Schulung von Arbeitgebern achten wir dabei auf das Motto „So viel wie nötig und so wenig wie möglich“ – weder wollen Arbeitgeber stundenlange Schulungen durchführen, noch möchten Klientinnen, dass etwas aus ihrer Vergangenheit preisgegeben wird. Vertraulichkeit und Personenschutz hat dabei höchste Priorität für uns. Aktiv treten wir mit Arbeitgebern überhaupt nur dann auf den Plan, wenn Klientinnen dies explizit wünschen und den Bewerbungsweg nicht alleine gehen können oder wollen.

„Armut, Krieg und Hoffnungslosigkeit sind neben Zwang und Gewalt die häufigsten Gründe, warum Menschen in der Prostitution sind.“

Was macht Ihr Verein Herzwerk genau?

Ähnlich wie unsere Partnervereine in Nürnberg und Karlsruhe, liegt unser Fokus auf der aufsuchenden Arbeit im Milieu sowie der Beratung und Begleitung von Menschen in der Prostitution und Betroffenen von Menschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. Wien hat über 350 registrierte Prostitutionsstätten und zwei Straßenstriche. Hier gehen unsere Teams mehrmals die Woche auf Einsatz und machen unser Angebot bekannt.

In unserer Beratungsstelle geht es dann meist um Themen rund um Papiere, Aufenthaltstitel, Anmeldung, Finanzen, gesundheitliche Probleme oder Sorgen bei der Wohnungs- und eben vor allem der Jobsuche. Viele Frauen haben Kinder im Heimatland oder auch hier in Wien. Die meisten stammen aus Rumänien, Ungarn, Bulgarien, China und Nigeria. Unser Team bietet ihnen auch Alltagsbegleitung zu Behörden oder Ärzten an – oder trifft sich auch einfach mal auf einen Kaffee zum Plaudern. Viele Klientinnen schätzen unseren sehr beziehungsorientierten Ansatz. Unser Schwerpunkt liegt dabei in der langfristigen Ausstiegshilfe, die nicht selten Monate und Jahre umfasst.

Daher ist es uns auch ein Anliegen, uns ebenso politisch wie auch in Aufklärungsarbeit zu investieren. Hierfür arbeiten wir auch mit anderen Vereinen und Organisationen in Wien zusammen. Besonders freuen wir uns dabei über unseren Partnerverein „Hope for the Future“: Hier können Klientinnen Deutsch- und Nähkurse besuchen und so ihre Sprachkenntnisse sowie Team- und Arbeitsfähigkeiten verbessern. Das ist für sie oft eine sehr wichtige Erfahrung und Zeit, um später am Arbeitsmarkt überhaupt Fuß fassen zu können.

Wie viele Frauen beraten oder begleiten Sie generell als Verein?

Da die Begleitprozesse häufig Monate oder gar Jahre umfassen, haben wir uns davon verabschiedet, Fallzahlen als wichtig zu erachten. Jede unserer Berater- und Begleiterinnen ist hier eigenverantwortlich und berät und begleitet so viele Personen, wie ihr Stundenkontingent und die eigenen Ressourcen es zulassen. Insgesamt arbeiten bei uns aktuell vier Frauen in der Sozialberatung sowie fünf Kolleginnen in der Alltagsbegleitung. Die meisten von ihnen gehen auch regelmäßig auf Einsatz ins Milieu – so entstehen immer wieder neue Kontakte. Außerdem haben wir Kolleginnen für den administrativen sowie den Präventionsbereich und wundervolle Ehrenamtliche, die uns in verschiedenen Bereichen unterstützen.

Was möchten Sie den Frauen vermitteln, die zu Ihnen kommen?

Vor allem, dass sie geliebte, wertvolle Personen sind. Als Herzwerk haben wir einen ganzheitlichen Ansatz. Das heißt, dass wir alle Menschen als von Gott gewollte und geliebte Meisterwerke betrachten und in unserer Beratung und Begleitung auf alle Ebenen des menschlichen Daseins achten – Körper, Seele und Geist. Worum es in den einzelnen Beratungen und Prozessen geht, entscheidet dabei die jeweilige Klientin selbst und das sieht immer anders aus.

Oft sind wir fasziniert, welche kreativen Fähigkeiten und Überlebensstrategien in Einzelnen stecken. Wenn wir mit Klientinnen besondere Meilensteine feiern dürfen – etwa die Bewilligung von Papieren oder eine bestandene Deutschprüfung –, sind das unsere persönlichen Highlights. Immer wieder dürfen wir erleben: Was durch Beziehungen zerbrach, kann durch Beziehungen auch wieder heilen.

Hat der Ukraine-Krieg etwas bei Ihrer Arbeit verändert? Gibt es mehr Ukrainerinnen unter den Prostituierten?

In Wien begegnen wir im Milieu vereinzelt Frauen aus der Ukraine – in den Grenzgebieten nach Tschechien und der Slowakei aber deutlich mehr. Etliche Frauen, die dort versuchen, in der Prostitution etwas Geld zu verdienen, wollen lieber in Heimatnähe bleiben. Die Schicksale sind schlimm – das ist leider bei den allermeisten Personen in der Prostitution so.

Armut, Krieg und Hoffnungslosigkeit sind neben Zwang und Gewalt die häufigsten Gründe, warum Menschen in der Prostitution sind. Für Betroffene aus der Ukraine wurden vielerorts zu Recht schnelle und möglichst unbürokratische Hilfen aufgebaut – genau diese Hilfen benötigen eigentlich alle unsere Klientinnen. Solange Menschen in der Prostitution Ausbeutung und Gewalt erleben, braucht es aufsuchende Arbeit, Anlaufstellen und „EVI“-Netzwerke, damit Betroffene Hoffnung, Perspektive und Begleitung auf einem neuen Weg erhalten!

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