Kein Wehrdienst ohne Zivildienst
Es ist gut, dass der Wehrdienst wieder aktiviert werden soll. Aber es sollte dazu zugleich die Alternative eines Wehrersatzdienstes geben, den „Zivi“. Deutschland muss fähig sein, sich gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Aber zur Verteidigung gehört nicht nur die militärische Schlagkraft, sondern auch, wie widerstandsfähig die Zivilbevölkerung ist. Deshalb ist es nur sinnvoll, dem Wehrdienst einen Zivildienst gegenüberzustellen – und dann gern auch verpflichtend. Wir neigen in unserer Gesellschaft allzu oft dazu, Verantwortung zu delegieren an Menschen, die durch ihr Amt oder ihre Ausbildung vermeintlich dafür zuständig sind. Aber Zivilgesellschaft lebt davon, selbst Verantwortung zu übernehmen und sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Das gesellschaftliche, sozialdiakonische Engagement von Kirchen und vielen Christen ist genau von diesem Gedanken geprägt: Sie geben dadurch ganz praktisch die Liebe Gottes weiter. Ein Zivildienst kann dabei helfen, über den eigenen Tellerrand zu blicken und eine Aufgabe zu übernehmen, die anderen dient. Junge Menschen können dadurch einen Einblick in gesellschaftliche Bereiche gewinnen, die ihnen sonst vielleicht verschlossen bleiben würden. Sei es Hauswirtschaft, Kindergarten, Pflege, Obdachlosenhilfe, Naturschutz. Das weitet den Horizont und das Verständnis für Lebensumstände, die anders sind als die eigenen. Das habe ich selbst als enorm bereichernd erlebt. Solche Erfahrungen tragen zur persönlichen Reife bei, stärken den Zusammenhalt in der Gesellschaft und erhöhen im Ernstfall womöglich die Bereitschaft, Verantwortung über die Komfortzone hinaus zu übernehmen. Daraus erwächst die Resilienz einer Gesellschaft. Die ist nicht nur im Verteidigungsfall gefragt.
Jonathan Steinert, 40
Mehr Israel wagen
In vielerlei Hinsicht kann Israel Vorbild sein. Das gilt auch für deren Wehrpflicht – allerdings mit einer entscheidenden Ausnahme. Im jüdischen Staat gilt die Wehrpflicht für alle. Männer dienen 36 Monate, Frauen 24. Die Vorteile liegen auf der Hand. Am offenkundigsten ist sowohl das Abschreckungspotential, als auch die erhöhte Verteidigungsbereitschaft. Israel ist in der Lage, innerhalb kürzester Zeit gut ausgebildete Streitkräfte zu mobilisieren. Die Wehrpflicht in Israel stärkt zudem die Resilienz, weil die Bevölkerung im Umgang mit Notlagen besser geschult ist. Doch die Vorteile einer umfassenden Wehrpflicht gehen über das Militärische hinaus. Israel ist ein Einwanderungsland, deswegen hat die Zeit in der Armee einen integrativen Charakter. Staatsbürger sämtlicher Herkunft und sozialer Schichten kommen miteinander in Kontakt. Das stärkt neben der Integration auch das Gemeinschaftsgefühl. Junge Menschen lernen durch ihre Zeit in der Armee Verantwortung zu übernehmen und sich solidarisch untereinander zu verhalten. Neben persönlicher Entwicklung der Wehrpflichtigen profitiert in Israel als Start-up-Nation maßgeblich von der Wehrpflicht. Die dort geprägte Kultur der Innovation fördert das Unternehmertum. Viele Gründer von Hightech-Unternehmen dienten zuvor in hochtechnologischen Einheiten der Armee. Auch deswegen gibt es in Israel eine enge Vernetzung von Industrie und Militär. Verteidigungs-Sondervermögen, das über den Umweg Bundeswehr am Ende auch der deutschen Wirtschaft zugutekommt und diese international wettbewerbsfähiger macht? Klingt nicht verkehrt. Allerdings gibt es in Israel keine Ausnahmeregelungen für Verweigerungen. Selbst ultra-orthodoxe Juden müssen ihren Dienst absolvieren. Bei Verweigerung droht Gefängnis. Das darf es jedoch in Deutschland nicht geben. Wehrpflichtige müssen immer die Möglichkeit haben, aus Glaubens- und Gewissensgründen die Ausbildung und den Dienst an der Waffe zu verweigern – ohne Strafen oder Nachteile zu befürchten.
Martin Schlorke, 32
Frieden bleibt ein Traum
Als ich in der 5. oder 6. Klasse war, gab es für die Eltern einen Brief, in dem es hieß, die Bundeswehr komme an die Schule und erkläre ihre Arbeit. Friedensbewegte Teile meiner Familie fuhren aus der Haut. Soldaten? An der Schule? Nein, damit sollen die Kinder nichts zu tun haben! Die Zeiten des Kriegs sind vorbei! So dachten sie wohl damals in den 90er Jahren, als die Mauer gerade gefallen und Deutschland keiner ernsten Bedrohung aus dem Ausland ausgesetzt war. Heute sähen sie es vielleicht anders. Denn fühlt sich nicht alles im Leben anders an, wenn das eigene Haus tatsächlich in Gefahr geraten könnte? Deshalb, ja, ich habe Verständnis, vollstes sogar, für die Pazifisten in der Kirche, von der Ex-EKD-Chefin Margot Käßmann bis hin zu Bischof Friedrich Kramer, dem evangelischen Friedensbeauftragten. Ich wünschte, ich könnte die Welt noch ebenso sehen wie sie oder wie meine Familie damals. Dennoch muss ich eingestehen: Wir sind bedroht. Ich blicke sorgenvoll gen Russland und China, habe gelegentlich Angst um meine Familie, mein Hab und Gut, mein Leben, so wie es jetzt ist. Und ich fühlte mich wohler, wüsste ich um eine wirklich wehrfähige Armee, die mich und uns schützen kann, wenn es ernst wird. Noch etwas weiß ich: Wenn es so weit kommen sollte und man bei der Bundeswehr nicht mehr nur Krieg spielt, sondern tatsächlich in ebenjenen ziehen muss, dann werden Freiwillige knapp. Deshalb ist es Quatsch, den Wehrdienst freiwillig zu gestalten, wenn der Feind sich bereits daran gemacht haben sollte, Grenzen zu überschreiten (und hat er das nicht bereits?). Nein, die Bundesrepublik braucht eine funktionierende Pflicht zum Wehrdienst, wie auch immer diese aussehen mag. Denn auch als Christin muss ich mir eingestehen, dass es wahren Frieden auf Erden nicht geben wird. Dort, wo Menschen leben, werden selbst Gebetshäuser zu Mördergruben, das wusste schon Jesus. Weihnachten erinnert uns daran, dass Jesus einen Frieden schenkt, der über alle menschlichen und immer zerbrechlichen Friedensbemühungen hinausgeht. Und dass wir auf Gott hoffen dürfen, der die einzig wahre Hoffnung ist – und nicht die Welt, in der umfassender Frieden ein schöner Traum bleiben wird.
Anna Lutz, 42
Nur freiwillig
Kämpfen für das Vaterland darf nie verpflichtend sein. Ich erinnere mich gut an den Moment, als ich André zum ersten Mal in die Augen blicke: Ich sehe Angst. Andre ist in seinen 30ern, stolzer Ukrainer, in Kiew lebend – doch Verstecken ist sein Alltag. Er verlässt sein Haus nur, um zur Arbeit zu gehen. Die Furcht, Soldaten könnten ihn kontrollieren und an die Front schleppen, ist allgegenwärtig. Schon seit Beginn des Krieges 2022 hätte er die Pflicht, als Soldat gegen Russland zu kämpfen. Doch André will nicht. Er hat Angst. Angst davor, in den schlammigen Schützengräben zu sterben. Sein Beispiel ist situativ. Es muss individuell betrachtet werden und trotzdem zeigt es deutlich: Die Frage nach der Wehrpflicht hat im Frieden eine andere Realität als im Krieg. Ist André ein Feigling? Ist er gar ein Vaterlandsverräter? Vielleicht ist er das – aber ich glaube, er sollte dazu berechtigt sein. Der entscheidende Grund, der meiner Meinung nach gegen eine Wehrpflicht spricht, liegt allerdings nicht in dem geforderten Recht auf Fahnenflucht. Er liegt in der Frage nach dem Guten: Was „gut“ genannt wird, ist nicht immer gut. Wäre es nicht fatal, für einen Staat und seine Werte zu sterben oder zu töten, ohne für sich vorher sorgfältig geprüft zu haben, ob man selbst dahintersteht und diese verteidigen kann? Vielleicht steht im Pass, Deutscher zu sein, doch die vorherrschenden Werte und Ideologien sind einem fremd geworden. Vielleicht erscheinen einem andere Ziele erstrebenswerter. Provokante Aussagen, die nach Fahnenflucht klingen mögen. Wie könnte ein freiheitlich-demokratisches Land nicht verteidigungswürdig sein? Doch zum einen ist diese Gesellschaftsordnung nicht garantiert. Zum anderen ist es gerade für uns Deutsche sehr wichtig, das eine nicht zu vergessen: Zu meinen, für das Gute zu kämpfen, heißt nicht automatisch, tatsächlich für das Gute zu kämpfen. Die Entscheidung, das Kämpfen für den eigenen Staat zu lernen, muss deshalb unbedingt auf einer freien Entscheidung gegründet sein.
Christian Biefel 27
Dieser Text erschien zuerst im Christlichen Medienmagazin PRO, Ausgabe 6/2025. Sie können das Heft hier abonnieren oder online lesen.