Die Politiker-Pastorin

Anne Gidion will als neue Prälatin in Berlin die Kirche in die Politik und die Politik in die Kirche bringen. Manche nennen das Lobbyismus, andere Diplomatie. So oder so steht sie vor vielen Herausforderungen.
Von Anna Lutz

Anne Gidion kniet auf dem Boden der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin-Mitte. Nur wenige Meter entfernt ist ihr neuer Dienstsitz, das Büro der Prälatin. Gidion ist Nachfolgerin von Martin Dutzmann und künftig Schnittstelle von Religion und Politik für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Doch bevor für sie der Alltag im Dienst beginnt, wird gebetet. Das ist gut christlich und mehr noch: Für Gidion ist die Einführung, bei der sie auch das traditionelle goldene Amtskreuz umgehängt bekommt, ein Herzensritual. Es markiert den Übergang – in ihrem Fall vom Pastoralkolleg der Nordkirche, das sie leitete, ins Zentrum Berlins.

Gidion kniet also, die Synodenpräses Anna-Nicole Heinrich tritt vor, hebt die Hände zum Segen und plötzlich geht ein hörbares Raunen durch die knapp 300 Gäste zählende Gemeinde. Denn Heinrich – typisch in hochgekrempelter Hose, weißen Sportsocken und Turnschuhen – legt nicht nur ihre Hände zum Segen auf den Kopf der Prälatin. Sondern auch ihr zwischen die Finger geklemmtes Smartphone, von dem sie die Segensworte abliest.

Ein Handy im Gottesdienst ist längst kein No-Go mehr, aber auf dem Kopf der Bevollmächtigten wirkt es doch seltsam fehl am Platz. Vielleicht weil es die Kluft zeigt zwischen Tradition und digitalisierter Welt, zwischen gesetzter Kirche und den Aufbrüchen der nachwachsenden Generation. 

Anne Gidion bei der Einführung in ihr neues Amt in der Französischen Friedrichstadtkirche

Es ist genau diese Kluft, die Anne Gidion künftig auch in Berlin beschäftigen wird. Digitalisierung, schrumpfende Mitgliedszahlen der Kirchen, ein weniger religiös geprägtes Parlament – wie geht sie damit um als „Diplomatin“ ihrer Kirche, wie sie sich gerne nennt?

„Das mit dem Handy habe ich gar nicht gemerkt. Aber ein vom Bildschirm abgelesenes Segenswort ist genau so wahr wie von Papier gelesen“, sagt sie eine Woche nach der Zeremonie, als PRO sie an ihrem neuen Dienstsitz am Gendarmenmarkt trifft. Das Büro ist noch nicht vollständig eingerichtet, noch fehlen persönliche Gegenstände, Bücher, Erinnerungen. Nicht nur hier ist sie eingezogen, sondern unter dem Motto „kirchemeetspolitik“ auch auf Twitter. Einer ihrer ersten Tweets ist eine Bitte um  Entschuldigung: „Ihr Lieben, ich übe noch.“

„Ihr Lieben, ich übe noch.“

Das Analoge, so scheint es, geht erstmal vor, denn die Anfragen für erste Treffen mit Abgeordneten aus dem Bundestag stapeln sich bereits. Der Terminkalender sei schon bis Ostern gut gefüllt, sagt Gidion. Das ist auch ihre Antwort auf die Frage, ob ihre Kirche und sie als Prälatin mit einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit ihrer Institution zu kämpfen haben. Denn erstmals sind die Mitgliedszahlen beider Kirchen unter die 50-Prozent-Marke der Bevölkerung gefallen.

„Wir sind als gesellschaftliche Kraft noch immer gefragt“, sagt sie. Als „gut aufgestellte Minderheit“. Das Selbstbewusstsein zieht sie auch aus der Rede, die Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD bei ihrer Einführung hielt. In seinem Grußwort im Anschluss an den Gottesdienst forderte er die Kirchen vehement dazu auf, weiterhin Position zu gesellschaftlichen Fragen zu beziehen: „Der christliche Glaube ist nicht nur ein Halteseil, sondern auch ein Bindeglied.“ Und weiter: „Bewahren Sie in solchen Zeiten Standhaftigkeit, seien Sie nicht nur spürbar, seien Sie auch hörbar, selbst dann, wenn es unbequem ist.“

Dass die Kirchen weiterhin gefragt sind, dürfte Gidion Sicherheit geben. Denn ansonsten hat sich vieles verändert, seit die heute 51-Jährige das letzte Mal in Berlin arbeitete. Über die Jahrtausendwende war sie selbst Referentin im Büro des damaligen Bevollmächtigten und damit eines ihrer Vorgänger, Stephan Rei‑mers. Anschließend arbeitete sie unter Johannes Rau im Bundes­präsidialamt und war zuständig für die Kontakte zu Kirchen und Religionsgemeinschaften. „Und diese Themen spielten eine große Rolle“, erinnert sie sich.

Rau wurde wegen seiner Art, den christlichen Glauben zu bekennen und zu leben, auch „Bruder Johannes“ genannt. „Heute ist es nicht mehr selbstverständlich, Mitglied einer der großen Kirchen zu sein“, sagt Gidion. Deshalb schließt sie für die Zukunft nicht aus, dass die Kooperation zwischen dem katholischen Büro und ihrer Dienststelle in Berlin von Fall zu Fall durch Allianzen mit anderen weltanschaulichen Gruppen erweitert werden könnte. Mit muslimischen Verbänden etwa oder dem Zentralrat der Juden, bei Rüstungsexporten, der Asylgesetzgebung oder anderen „wichtigen ethischen Themen“.

Für Waffenlieferungen in die Ukraine

Eins davon, für sie das derzeit drängendste, ist der Krieg. Nicht umsonst hat die Evangelische Kirche jüngst entschieden, ihre Friedensethik zu überarbeiten. Der Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch die Theologen unvorbereitet getroffen.

Gidion überlegt, dann sagt sie: „Ich halte Waffenlieferungen in die Ukraine für gerechtfertigt.“ Wissend, dass ihre Religion lehre: „Selig sind die Friedfertigen, und das passt nicht zum Waffenliefern.“ Die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte in der Ukraine habe für sie Priorität, untätig zu sein, sei keine Option. Die Spannung zwischen dem Kampf als Mittel und dem Frieden als Ziel gebe es auch schon in der Bibel.

Gidion kennt die theologische Auseinandersetzung, seit sie Jugendliche war. Über einen „hervorragenden“ Religionsunterricht und den Jugendkreis einer Gemeinde in Göttingen kam sie zur Mitwirkung in der Kirche. „Ich habe dort Theologie im besten Sinne kennengelernt, wir haben diskutiert über Glück, die Evangelien, Juden und Christen“, erinnert sie sich aus dem Stegreif an die Themen, die ihre Lehrerin damals ansprach. „Es war für mich auch eine Art, meine Welt unabhängig von meinen Eltern selbst zu erschließen“, sagt sie. Denn Vater und Mutter sind Lehrer und Literaturwissenschaftlerin, der Kirche nicht abgeneigt, aber auch keine regelmäßigen Gottesdienstbesucher.

Lieder am Lagerfeuer

„Ich wollte nie Pastorin werden“, sagt Gidion und muss lachen. Denn nicht nur war sie jahrelang Pastorin, auch ihren neuen Dienst in Berlin bezeichnet sie als „Sonderpfarramt“ in einem sehr speziellen Feld. Die Politik kommt ihr schon im Theologiestudium nahe, Gidion wird Teil der Kirchentagsbewegung, lernt Ost-Bürgerrechtler wie Joachim Gauck und Marianne Birthler kennen.

Doch Theologie und Politik allein machen noch keine christliche Überzeugung. Den emotionalen Zugang findet sie in der Musik. „Gib mir die richtigen Worte, gib mir den richtigen Ton. Worte, die deutlich für jeden von dir reden. Gib mir genug davon.“ Es sind Zeilen wie diese des christlichen Liedermachers Manfred Siebald, die sie in den späten 80er Jahren mit dem Jugendkreis am Lagerfeuer singt. Sie kann sie bis heute auswendig.

So wie Siebald in Landes- wie Freikirchen gesungen wird, verweigert auch sie sich der Grenzziehung. Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hat sie den neuen Vorstand der Deutschen Evangelischen Allianz, Frank Heinrich, zur Mitwirkung in einem Buß- und Bettags-Gottesdienst eingeladen. Zusammen mit dem ehemaligen grünen Europapolitiker und heutigen Umwelt-Staatssekretär Sven Giegold. Es sind vielleicht diese neuen Allianzen, die sie sich künftig vorstellt. In einer Bundeshauptstadt, in der die Kirchen geschwächt – und trotzdem noch gefragt sind.

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9 Antworten

  1. Ein kirchlicher „Job“ mit viel menschlicher Weisheit. Eine Kirche die zahlreiche biblische Wahrheiten, neu definiert, hat ihre Salzfunktion völlig verloren. Wenn nicht der „Schrecken Gottes“, die Kraft Gottes in unserer Zeit sichtbar wird, wird der allmächtige Gott immer stärker gewöhnlich gemacht und fordert letztendlich den Grimm und Zorn Gottes heraus. Dann erleben die Nationen den Schrecken Gottes, das Gericht.
    Gott wartet auf Hilferufe der Menschen, die sich in ihrer Not, an den wenden, der alleine helfen kann!
    Der dreieinige Gott ändert sich niemals!
    Lieber Gruß, Martin Dobat

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    1. Wenn Sie Schrecken (um nicht zu sagen „Angst und Schrecken“) verbreiten und meinen damit für Gott werben zu können, sagt dies sehr viel über Ihren Glauben aus.
      Vielleicht sollten Christen endlich begreifen, dass mit Drohungen kein Blumentopf mehr zu gewinnen ist und euer Verhalten oft bestenfalls wahrgenommen wird, wie das des Fuchses in der Fabel vom Fuchs und den Trauben.

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      1. Lieber Stefan Kietzmann, es geht nicht darum „Angst und Schrecken“ zu verbreiten. In 2.Chronik 20,29 heißt es: „Und der Schrecken Gottes kam über alle Königreiche der Länder, als sie hörten, dass der Herr gegen die Feinde Israels gestritten hatte“. Hier wird uns davon berichtet, wie allgewaltig der lebendige Gott war, in diesem Sinne wunderten sich die anderen Nationen, wie mächtig der lebendige Gott war, ist und in alle Ewigkeit bleibt. Diese „Kraft Gottes“, der Glaube, dass der allmächtige Gott auch heute noch eingreifen kann, ist leider (fast völlig) verloren gegangen. Das ist meine Sehnsucht, dass diese Kraft Gottes auch unter uns wieder sichtbar wird. Eine Kirche ohne Kraft ist absolut überflüssig und verführt noch die Menschen.
        Lieber Gruß zu Ihnen, Martin Dobat

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        1. „Diese “Kraft Gottes”, der Glaube, dass der allmächtige Gott auch heute noch eingreifen kann, ist leider (fast völlig) verloren gegangen. Das ist meine Sehnsucht, dass diese Kraft Gottes auch unter uns wieder sichtbar wird.“ – Es scheint aber vielleicht eher so zu sein, dass Sie diese Kraft in den vielen Tätigkeiten der Kirche und einzelner Christen nicht erkennen können, aber behaupten, dass sie nicht da sei, weil Sie Ihre Sehnsucht sehr eingegrenzt haben und vielleicht doch lieber auf Angst und Schrecken warten.

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      2. Danke , Stefan Kietzmann ! Ich hatte schon längst dei Hoffnung aufgegeben, dass es auch nur „etwas“ bewirken könnte, Herrn Dobat zu widersprechen ! . Deshalb nochmal : Danke, ! Denn , wie Sie den Widerspruch formuliert haben ist er nicht lieblos, aber nötig !

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  2. Es hört dich so an, als sieht sich als Diplomatin für eine Organisation. Nach dem Artikel scheint nur um weltliche Themen zu gehen.

    Nicht in erster Linie um Gott. Gottes Auftrag lesen steht in 2 Korinther 5:20: So sind wir nun Botschafter für Christus, und zwar so, daß Gott selbst durch uns ermahnt; so bitten wir nun stellvertretend für Christus: Laßt euch versöhnen mit Gott!

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  3. Wir haben schon viel zu viel Politik in der Kirche und Kirche in der Politik. Es reicht!

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  4. Wie steht es um eine Kirche, der schon ein Politiker sagen muss: „Bewahren Sie in solchen Zeiten Standhaftigkeit, seien Sie nicht nur spürbar, seien Sie auch hörbar, selbst dann, wenn es unbequem ist.“
    Hoffentlich findet die Kirche wieder zum biblischen Fundament und zu Ihrer eigentlichen Aufgabe zurück und zeigt dort Standhaftigkeit. Sonst verliert sie mehr als ihre Mitglieder.

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    1. Richtig! Einer, der schon häufiger die Kirche(n) ermahnte, zu ihrem Kernauftrag( Verkündigung des Evangeliums) zurückzukehren, war kein Geringerer als Wolfgang Schäuble.

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