Theologe Thorsten Dietz: Die Ehe ist keine christliche Idee

Die Feministin Emilia Roig will die Ehe abschaffen. So zumindest schreibt sie in ihrem populären Buch „Das Ende der Ehe“. Der Theologe Thorsten Dietz hält dagegen, mahnt aber auch einen christlichen Hype um die Ehe an.
Von Anna Lutz

PRO: Herr Dietz, muss die Ehe abgeschafft werden, wie Emilia Roig in ihrem Buch „Das Ende der Ehe“ schreibt?

Thorsten Dietz: Nein. Der Titel ist doch hauptsächlich Marketing. Würde sie sagen, Frauen werden in der Ehe benachteiligt und das ist falsch, dann wäre ihr Buch eines von vielen und es würde kaum Beachtung erfahren. So ist es aber ein Eyecatcher geworden.

Ist die Ehe eine frauenfeindliche Institution?

Nein. Roig nimmt die Ehe als Ausdruck einer patriarchalen Weltordnung wahr. Das ist ziemlich einseitig. Natürlich hat sie recht, wenn sie darauf hinweist, dass das Zusammenleben von Männern und Frauen lange Zeit ein Alptraum war, aus dem wir auch heute erst langsam erwachen. Und doch hat ein Ruck in Richtung Gleichheit stattgefunden. Es muss sich noch viel verändern, aber wir müssen auch nicht so tun, als wäre alles noch wie in der Steinzeit.

Wo hat Roig noch recht?

In Beziehungen leisten Frauen den Großteil der Care-Arbeit: Haushalt, Familie, Beziehungsarbeit, Pflege. Wenn Frauen Beruf und Familie wollen, dann stehen sie unter erheblichem Druck und sind oft dauererschöpft. Roig sagt, die Ehe tue so, als sei das eine natürliche Ordnung, sie ist es aber nicht. Diesen Punkt sehe ich auch.

Die Folge dieser einseitigen Verteilung ist, dass Männer nach wie vor mehr verdienen, mehr Rente bekommen und so weiter. Weshalb es Männern zum Beispiel leichter fällt, sich von Frauen zu trennen als andersherum, denn die Frauen sind finanziell abhängig. Diese Muster sind für Frauen schädlich. 

Was sind die Vorzüge der Ehe? Sie sind selbst seit 23 Jahren verheiratet, Sie hatten vermutlich Gründe, sich dafür entschieden zu haben.

Die Ehe ist zunächst mal keine verrückte Idee. Die Sehnsucht nach Partnerschaft und nach einem Menschen, in dem wir uns spiegeln und mit dem wir durchs Leben gehen, ist uralt. Älter als Demokratie, als Kapitalismus, als die Bibel. Es gibt eine natürliche Veranlagung des Menschen, zu zweit durchs Leben gehen zu wollen.

Die Ehe macht mit dieser Veranlagung etwas Schönes: Sie bringt Liebe und Sexualität zusammen mit einer rechtlichen Ordnung. Romantische Zuneigung trifft öffentliche Selbstverpflichtung zur Fürsorge. Von Verliebtheit allein kann keiner leben. Treue, Verbindlichkeit und Fürsorge sind das Sicherheitsnetz fürs Leben. Ein verlässlicher Rahmen schafft zudem Erwartungssicherheit.

Und noch etwas: Ehe schafft ein viel größeres Familiennetz als nur das der Partner. Es verknüpft Menschen in einer Familie miteinander: Onkel, Tanten, Schwiegereltern, Eltern, Kinder. Dieses Geflecht zeigt sich dann in Familienfesten, Riten, Traditionen, Erinnerungen, Orten, Praktiken.

Meine Erfahrung als Pfarrer ist: In Krankheit oder Leid kommen nicht die Freunde und die Vereinskollegen, um zu helfen. Es ist vor allem die Familie, die sich reinkniet und sich aufopfert.

Frau Roig sagt, dazu braucht es keine Familie, dazu reicht Menschlichkeit oder Freundschaft.

Das ist gar nicht so weit weg von der Bibel. Die Menschheit ist demnach eine Familie, die sich umeinander kümmert. Tatsache ist aber auch, dass wir Menschen an diesem Ideal scheitern. Ehe und Familie ist vielleicht noch das, was wir am ehesten mit Ach und Krach hinkriegen. Es ist eine Illusion, dass wir uns unser soziales Netz selbst machen könnten.

Gerade im christlichen Kontext ist die Ehe, die kirchliche Trauung zwischen Mann und Frau, für die meisten ein wichtiger Teil des Lebens. Ist die Ehe denn eine christliche Idee?

Gar nicht. Ehe gab es lange vor dem Juden- oder Christentum. Und die Bibel ist im Übrigen voll von Männern, die mehr als eine Frau haben, was ja nicht gerade unserem Eheideal entspricht. Frauen werden im Alten Testament als Besitz gesehen. Das ist eine völlig andere Welt als unsere heutige.

Ansonsten gibt es in der Bibel wenige Texte, die so etwas wie eine Theorie der Ehe bieten. Jesus spricht einmal darüber. Es hat ihn nicht sehr beschäftigt. Die Männer, mit denen er unterwegs war, haben ihre Familien zurückgelassen. Paulus spricht kritisch über die Ehe, er erlaubt sie, aber er sagt, eigentlich sei es besser, nicht zu heiraten. Wenn man es also genau nimmt, dann ist das Neue Testament ehekritisch. Es ist mir ein Rätsel, wie das in Vergessenheit geraten konnte. 

Woher leiten Christen ihre Idee der Ehe dann ab?

Seit der Romantik hat sich die Idee der Liebesheirat langsam durchgesetzt. Sie hatte ihre Blüte nach dem Zweiten Weltkrieg. In den Wirren der damaligen Zeit waren Werte wie Heimat und Zuhause sehr wichtig und wurden zum Ideal. Zugleich ist sie aber derart idealisiert worden, dass jeder das Gefühl hatte, er müsse möglichst schnell unter die Haube kommen. Indiz eines gescheiterten Lebens war lange Zeit, keinen abgekriegt zu haben. Das ist natürlich falsch und bitter.

Für Christen gilt: Der Wunsch nach Ordnung ist eng verknüpft mit Konservatismus. Zu dieser Ordnung gehört auch die Familie. Kurz gesagt: Je unruhiger die Welt, desto größer der Wunsch nach Erhalt und Ordnung. Die Ehe ist ein Ordnungsmittel. So erkläre ich mir den Hype darum. Man hat ja in gewissen Kreisen das Gefühl, die Entscheidung zur Ehe sei die zweitwichtigste im Leben, gleich nach der für Jesus Christus. Wer Single ist, ist unvollständig. Das kann keine gute Haltung sein.

Sie sagen: „Ehe ist veränderlich.“ Sie hat sich verändert über die Jahrhunderte und sie wird sich weiter verändern. Wohin geht denn die Reise?

Der westliche Trend zur gleichberechtigten „Ehe für Alle“, auch für Schwule und Lesben, wird bestehen bleiben und sich auch über die westliche Welt hinaus ausbreiten. Vielleicht wird es polyamore Konstrukte geben. Ehe wird also bunter und flexibler. Es werden etwas weniger Menschen heiraten, gerade in den großen Städten. Aber die Ehe wird auf absehbare Zeit nicht untergehen. Und manches Experiment wird den Wert stabiler Beziehungen offenbaren. Also: Die Ehe wird offener, liebevoller und freier.  

Wo muss die Ehe sich verändern?

Ich halte das Ehegattensplitting für nicht mehr zeitgemäß. Man sollte nicht für den Trauschein belohnt werden, sondern dann etwas bekommen, wenn man bedürftig ist. Die Männer müssen sich auch mal wachrütteln lassen und ihre Verantwortung für die Kernfamilie viel stärker wahrnehmen. Zum Glück sind Männer heute in der Lage, Babys zu wickeln oder schreiende Kinder zu trösten. Aber da geht noch mehr. Frauen sind noch zu stark darauf gedrillt, sich um die Familie zu kümmern, und Männer zu wenig. 

Roig schreibt: „Menschen kommen und gehen, Liebe kommt und geht. Warum sollten wir gegen diese Zyklen kämpfen?“

Liebe kommt und geht, das stimmt. Die Ehe aber nährt die Zuversicht, dass Liebe in Wellen wiederkommen kann. Und dass wir darauf vertrauen dürfen, das gemeinsam zu erleben. Sie sieht darin einen Wert an sich. Wenn wir uns nur der Verliebtheit hingeben und akzeptieren, dass sie kommt und geht, dann bleiben immer Menschen auf der Strecke. Die Schwachen nämlich. Die Ehe ist ein Sicherheitsnetz für soziale Gerechtigkeit.

Wo wir wieder bei der Bibel wären …

Ja. Nicht umsonst baut sie die Analogie zwischen Ehe und Gemeinde auf. Mann und Frau stehen zueinander wie die Gemeinde zu Gott. Die Ehe ist ein Spiegel der Liebe, die Gott zum Menschen hat. Das ist die christliche Verheißung. Dazu gehört aber auch die Treue. So, wie Gott zu seinem Volk hält, halten wir aneinander fest. 

Herr Dietz, vielen Dank für das Gespräch!

Lesen Sie mehr dazu in der Printausgabe 3/2023 des Christlichen Medienmagazins PRO. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen oder digital lesen.

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