Als Jürgen Mette 57 Jahre ist, erhält er die Diagnose Parkinson. Los geht es damit, dass er nicht mehr richtig riechen kann. Später fangen Arm und Bein an, unkontrolliert zu zittern. Der Theologe und leidenschaftliche Evangelist leitet zu dem Zeitpunkt einen missionarischen Verlag. Um zu predigen, reist er durch das ganze Land und darüber hinaus. Doch dann: Verzweiflung, Angst und Glaubenszweifel. Das war 2009.
Dass er auch nach seiner Diagnose hunderte Vorträge und Predigten gehalten hat, heute noch seinem Alltag nachgehen, schreiben und sprechen kann, Freizeiten für Parkinson-Erkrankte organisiert und Seelsorgegespräche führt, verdanke er Gottes Gnade. Und einer kleinen Maschine in seinem Körper, sagt er. Die sendet elektrische Impulse an Sonden, die gezielt in seinem Gehirn platziert wurden. Dadurch hat Mette wieder Kontrolle über seine Bewegungen – seit zehn Jahren ist er komplett frei vom Tremor, der typisch ist für die Krankheit.
Alle drei, vier Wochen muss das Gerät über eine Induktionsschleife aufgeladen werden. Er könnte über eine Fernbedienung selbst auch die Stromstärke verändern, aber das möchte er lieber nicht. Dass das Nervensystem weiter abbaut, lässt sich nicht verhindern. Mette fällt das Sprechen mittlerweile nicht mehr so leicht, er bekommt deshalb Logopädie. Aber der Hirnschrittmacher hilft, die Parkinson-Symptome einzugrenzen und ihre Entwicklung deutlich zu verlangsamen.
Die Neurotechnologie eröffnet schwer kranken Menschen enorme Perspektiven. Unterstützt von Künstlicher Intelligenz, die darauf trainiert ist, bestimmte Muster im Gehirn und seinen Aktivitäten zu erkennen, können neurodegenerative Erkrankungen wie Parkinson entdeckt werden, bevor sich Symptome bemerkbar machen.
Im Fall einer Epilepsie kann ein implantierter Mini-Computer die Gehirnaktivitäten überwachen und den Patienten informieren, wenn sich ein epileptischer Anfall anbahnt – bevor es der Betroffene selbst merken würde. Auch bei schweren Depressionen kann eine gezielte Stimulation von Gehirnbereichen Symptome unterdrücken und so das Leben erträglicher machen.
Biblische Wunder werden wahr
Menschen, die Gliedmaßen verloren haben, einen Schlaganfall hatten oder querschnittsgelähmt sind, lernen, Prothesen oder Exoskelette per Gedanken zu bewegen: indem die elektrischen Aktivitäten in bestimmten Bereichen des Gehirns gemessen, ausgelesen und in elektrische Signale übersetzt werden. Selbst Worte und Sätze, die Menschen in Gedanken formulieren, können in einem begrenzten Rahmen auf diese Weise und mithilfe einer Sprach-KI entschlüsselt werden.
Nicht in jedem Fall sind dafür Implantate oder andere riskante invasive Methoden nötig, bei denen Elektroden im Gehirn eingesetzt werden. Mittels Elektroenzephalographie (EEG) und anderen Verfahren lassen sich Hirnströme auch von außen messen. Dafür sorgen Sensoren, die auf der Kopfhaut sitzen. Schnittstellen verbinden Computer direkt mit dem Gehirn, sie ermöglichen den Zugriff auf neuronale Daten und können sie auswerten.
„Stumme, die wieder sprechen können, und Gelähmte, die wieder laufen“: Der Neurowissenschaftler Marcello Ienca von der Technischen Universität München sprach in einem „Spiegel“-Interview davon, dass Neurotechnologie mithilfe Künstlicher Intelligenz geradezu biblische Wunder bewirken können. Viele Anwendungen sind derzeit noch nur unter Laborbedingungen möglich und noch nicht in der Breite im Einsatz, etwa die gedankliche Steuerung von Prothesen. Doch die Forschung macht große Fortschritte.
Und das nicht nur im Bereich der Medizin. Sogenanntes Neuromarketing setzt gezielt Erkenntnisse aus der Hirnforschung ein, um die Kaufentscheidungen von Kunden noch gezielter zu beeinflussen. Apple hat ein Patent registriert für Kopfhörer mit integrierten Elektroden, die in der Lage sind, Hirnaktivitäten zu messen. Ob der Tech-Konzern das tatsächlich entwickelt, ist unklar, ebenso, wofür die Neurodaten in der konkreten Anwendung genutzt werden sollen. Denkbar könnte sein, darüber etwa den Audio-Player zu steuern.
Eine technische Verlängerung des Körpers
Das New Yorker Unternehmen OpenBCI stellt Open-Source-Software für Biosensorik und Neurowissenschaften zur Verfügung. Im Dezember vorigen Jahres präsentierte es „Galea Beta“. Dabei ist eine VR-Brille mit zahlreichen Sensoren kombiniert, die Körperfunktionen und Hirnaktivitäten gleichzeitig messen: Augenbewegungen, Muskelimpulse, Schweiß auf der Haut und Herzfrequenz ebenso wie Hirnströme mittels eines EEG. Die physiologischen und neurologischen Daten geben ein direktes Feedback auf die Software – die sich mithilfe von Künstlicher Intelligenz auf diese Weise steuern lässt und sich individuell an den Nutzer anpassen kann.
Der Deutsche Christian Bayerlein leidet an spinalem Muskelschwund, er kann sich kaum bewegen. Bei einer Vorführung mit diesem Gerät bewegte er eine Drohne: nur per Gehirn und minimalen Muskelbewegungen. Interessant ist diese Technologie für Computerspielhersteller und die Unterhaltungsindustrie, aber auch etwa für das Training in der Luftfahrt. OpenBCI arbeitete bei der Entwicklung des Systems unter anderem mit der amerikanischen Luftwaffe zusammen.
Für den breiten Markt ist „Galea Beta“ nicht gedacht, das Paket aus Soft- und Hardware ist ab 30.000 Dollar zu haben. Es soll eine Plattform sein für weitere Entwicklung – und den Computer der Zukunft. Der soll nicht nur eine Maschine sein, die der Nutzer bedienen muss; er soll sich wie eine Verlängerung des Körpers anfühlen, gesteuert vom eigenen Nervensystem. Das ist das visionäre Ziel, mit dem OpenBCI es mit Konzernen wie Apple und Meta aufnehmen will.
„Stellen Sie sich einen digitalen Assistenten vor, der tatsächlich Ihre Absichten versteht, ohne dass Sie Textbefehle eingeben oder korrigieren müssen. Spiele, Filme, Unterrichtsentwürfe, die sich von selbst an den individuellen Nutzer anpassen. Gesundheitsfürsorge und Prävention anhand von personalisierten Daten und ein immer aktives Frühwarnsystem“, beschreibt Unternehmensgründer Conor Russomanno seine Vision.
Glaubenswechsel per Hirnstimulation
Wenn Computer auf Gehirne zugreifen und Künstliche Intelligenzen lernen, die Daten auszuwerten, Schlüsse daraus zu ziehen und gezielte Impulse ins Gehirn abzugeben, ist es nicht weit zu der Frage: Sind die eigenen Gedanken im Kopf noch sicher? „Ich denke, was ich will, und was mich beglücket, doch alles in der Still, und wie es sich schicket. Mein Wunsch und Begehren kann niemand verwehren, es bleibet dabei: die Gedanken sind frei“, heißt es in einem Volkslied. Könnte es damit irgendwann vorbei sein, weil sie technisch ausgespäht und manipuliert werden können?
Der Neurowissenschaftler Ienca skizziert ein dystopisches Szenario: „Unternehmen könnten in Ihrem Gehirn Verlangen nach bestimmten Produkten wecken. Und Diktaturen könnten die Gehirne von Gefangenen oder Oppositionellen hacken und deren Gedanken extrahieren“, sagte er dem „Spiegel“ und ergänzte ein Beispiel: „Nehmen wir an, Chinas Regierung wollte die politischen und religiösen Überzeugungen der muslimischen Bevölkerung in Xinjiang ändern – was sie derzeit auf anderen Wegen versucht. Ich schätze: Über Gehirnmanipulation wird das in ein paar Jahrzehnten technisch möglich sein.“
Wo der Geist Gottes wohnt
Sollte es tatsächlich einmal möglich sein, den Glauben durch gezielte Manipulation des Gehirns zu verändern oder gar „abzuschalten“: Was würde das aus christlicher Sicht bedeuten? Stünde die Erlösung durch Jesus Christus dann infrage? Für Werner Thiede, Pfarrer und Professor für Systematische Theologie, ist der rettende Glaube im Kern einer Person verortet, der „so wenig austauschbar oder manipulierbar ist wie überhaupt die unsterbliche Seele“. Der menschliche Geist funktioniere nur in – guter oder gestörter – Verbindung mit dem göttlichen Geist. „Es wäre schlimm, wenn Gottes Verhältnis zu uns abhängig wäre von bestimmten, teils handhabbaren Gehirnzuständen.“ Der Apostel Paulus schreibt im Römerbrief, dass Gottes Geist in den Menschen wohne. Selbst wenn Forscher wissen, welche Gehirnareale für den Glauben zuständig sind und manipuliert werden müssten: Den Wohnsitz von Gottes Geist werden sie wohl nicht evakuieren können.
Auch der amerikanische Neurowissenschaftler Andrew Newberg, der sich damit beschäftigt, wie sich Religiosität im Gehirn widerspiegelt, schließt so etwas nicht aus. Auf PRO-Anfrage sagte er, dass es die Möglichkeit geben können wird, Teile des Gehirns zu stimulieren oder zu hemmen, um Überzeugungen eines Menschen zu verändern.
Dass es gelingt, Menschen auf diese Weise von einer Religion zur anderen zu konvertieren, hält er allerdings für unwahrscheinlicher. Zugleich weist er darauf hin, dass Menschen auch ohne neurotechnologische Werkzeuge ihr Gehirn anregen und Überzeugungen ändern. „Viele Menschen haben sich von religiös zu atheistisch bewegt oder umgekehrt, ohne dass irgendwelche Geräte dafür gesorgt hätten.“
Andere Forscher sind zurückhaltender in ihrer Prognose, ob religiöse oder politische Ansichten mit gezielter Hirnstimulation verändert werden können. Diese seien sehr komplex im Gehirn repräsentiert, sagt Simon Eickhoff, der das Institut für systematische Neurowissenschaft an der Universität Düsseldorf leitet, auf Anfrage von PRO. Auch sei es womöglich für immer, zumindest aber auf lange Sicht Zukunftsmusik, beliebige Gedanken oder Absichten von fremden Menschen zu entschlüsseln, ohne dass eine Künstliche Intelligenz inhaltliche Vorgaben dafür bekommt. Der Neuroethiker Bert Heinrichs betont: Es wird auch weiterhin mentale Geheimnisse geben. Dem Gedankenlesen seien Grenzen gesetzt.
Dennoch ergeben sich zahlreiche ethische Fragen, wenn Algorithmen und Gehirn aufeinandertreffen: Wie frei und eigenständig kann der Mensch handeln und entscheiden? Wie beeinflusst die Technologie die Persönlichkeit und was folgt daraus? Wie bleibt privat, was privat bleiben soll? Wer darf wie viel Zugriff auf neuronale Daten haben und zu welchen Zwecken? Wo kann es zu psychologischen Abhängigkeiten von neuronaler Stimulation kommen? Was ist, wenn die KI einen Fehler macht?
Menschenrecht für den Geist
Diese Fragen werden auch auf politischer Ebene diskutiert. Der Europäische Rat setzt bis 2025 einen strategischen Aktionsplan um mit dem Ziel, Menschenwürde und -rechte im Bereich Biomedizin zu schützen. Im vorigen Jahr hat die Generalversammlung der Unesco eine Expertenkommission eingesetzt, um ethische Empfehlungen für den Umgang mit Neurotechnologie zu erarbeiten. Einen ersten Entwurf hat das Gremium im Mai vorgelegt.
Darin nennt es weitreichende ethische Probleme: Datensicherheit und der Schutz der Persönlichkeit liegen dabei am nächsten; doch auch das Risiko, dass Menschen aufgrund der gesammelten Daten und Algorithmen diskriminiert und Ungleichheiten durch neurotechnische Optimierung verschärft werden, spricht der Text an; die Experten sehen die Möglichkeit, dass kollektive und kulturelle Identitäten mithilfe von KI und Neurotechnologie eingeebnet und ganze Gruppen von Menschen manipuliert werden könnten. Ja, sogar die Vorstellung davon, was Menschsein eigentlich bedeutet, könne bedroht sein.
Marcello Ienca ist einer der Experten, der in der Unesco-Kommission mitarbeitet, auch dem Bioethik-Komitee des UN-Menschenrechtsrates gehört er an. Zusammen mit einem Kollegen hat er den Begriff der „Neurorechte“ in die Diskussion gebracht. Grundlegende Rechte und Freiheiten, die den menschlichen Geist und das Gehirn schützen – Gedankenfreiheit, Privatheit, geistige Unversehrtheit –, sind ihm zufolge auch die Grundlage für andere Rechte und Freiheiten wie Meinungsfreiheit. Deshalb sollten sie im Rahmen der internationalen Menschenrechte geschützt werden.
Die EU-Grundrechtecharta schützt bereits nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Unversehrtheit und neben der Gewissens- und Religionsfreiheit auch die der Gedanken. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung erwähnt ebenfalls die „Gedankenfreiheit“. Ienca ist das jedoch angesichts der weitreichenden Möglichkeiten der Neurotechnologie zu unspezifisch. Deshalb plädiert er dafür, auszuarbeiten, was das im digitalen Zeitalter genau bedeutet, was Gedankenfreiheit und mentale Integrität also sind, wenn Neurotechnologien und KI Gehirne auslesen und manipulieren können.
Neurotechnologische Anwendungen können vielen Menschen ein Segen werden. Gleichzeitig dringen sie tief in die Schaltkreise des menschlichen Geistes ein. Wenn die ethische und rechtliche Debatte die Forschung auf Augenhöhe begleiten will, darf sie keine Zeit verlieren. Im Einzelfall müssen sich Nutzer auch selbst fragen, was von ihren innersten Daten sie der Technik preisgeben wollen – solange sie die Freiheit dazu haben.Texte schreiben, ohne zu tippen, Maschinen mit Gedanken steuern oder störende Charaktereigenschaften im Hirn abschalten: Was wie Science Fiction klingt, ist von der zukünftigen Realität nicht weit weg. Und es bringt eine Fülle von ethischen Problemen mit sich.
Dieser Text erschien in der Ausgabe 5/2024 des Christlichen Medienmagazins PRO. Hier können Sie das Heft kostenlos bestellen oder online lesen.