„Wir haben Jesus in eine westliche Schublade gesteckt“

Westliche Christen sollten die Kultur von Muslimen besser verstehen und wertschätzen lernen, fordert Mariya Dostzadah Goodbrake. Die ehemalige Muslimin erzählt im Gespräch mit pro, wie sie als Christin ihre afghanische Kultur lieben lernte.
Von PRO
Als Muslimin hielt Mariya Dostzadah Goodbrake das christliche Gebet für schräg. Doch heute betet auch sie zum Gott der Christen.

pro: Neulich kritisierten deutsche Politiker und Medien den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan für seine antidemokratischen Umtriebe. Türkischstämmige Migranten solidarisierten sich mit Erdogan. Wie erklären Sie sich das?

Mariya D. Goodbrake: Ich glaube, dass dies kein religiöser, sondern ein Konflikt über die Identität ist. Diese türkischstämmigen Migranten können ihre Identität nicht jenseits der Gemeinschaft leben. Wenn die deutsche Regierung mit dem Finger auf den türkischen Präsidenten zeigt, zeigt sie aus deren Sicht genauso auf die türkische Identität. Auch wenn Deutschtürken die westliche Kultur akzeptiert haben, werden sie weiter für ihre türkische Identität kämpfen.

Wie kann hier ein Dialog entstehen?

Man braucht Wortführer mit Einfluss auf die türkische Gemeinschaft. Die müssen ihnen sagen: „Deutschland ist unser Zuhause. Wir können hier leben, ohne unsere Identität aufzugeben. Keiner will, dass wir unsere türkischen Wurzeln kappen. Und wenn die Deutschen die türkische Regierung kritisieren, dann meinen sie nicht uns damit. Wir denken gruppenbezogen, die Deutschen nicht.“ Dieses Gruppendenken ist übrigens auch der Grund dafür, warum es Muslime – praktizierend oder nicht – so verletzt, wenn Menschen im Westen sagen: Muslime sind Terroristen.

Warum kommt es immer wieder zu Missverständnissen im Dialog zwischen Muslimen und dem Westen?

Menschen im Westen nutzen wenig Kontext in ihrer Kommunikation. Sie sind direkt: Ich sage, was ich meine. Menschen aus Kulturen mit einem hohen Anteil an Kontext hören nicht nur darauf, was jemand sagt, sondern auch auf das, was hinter einer Aussage stehen kann. Als ich in Mexiko arbeitete, zu der Zeit war ich noch Muslima, sagten Westler zu mir: „Hey, Mariya, der Islam ist eine falsche Religion.“ Im Islam bilden Religion, Kultur und Identität ein Gesamtpaket. Für mich bedeutete das also: Meine Kultur ist falsch. Und meine Identität auch. Die wahre Herausforderung in der Auseinandersetzung mit dem Islam ist nicht die Religion, sondern die Frage: Wer bin ich?

Das klingt nach Scham und Ehre.

Ja. In „Scham-und-Ehre“-Kulturen geht es darum, Scham zu vermeiden und die Ehre zu bewahren. Innerhalb der Familie, der Gesellschaft, der Kultur. Man schaut weniger auf den Einzelnen, eine Identität außerhalb der Gruppe gibt es nicht. Typische Werte sind Familie, Loyalität, Gemeinschaft. Für Muslime gilt außerdem das Ideal der Beduinen: Wir streben danach, ein bewundertes, kraftvolles, stolzes Ansehen zu erlangen.

Woher kommt dieses Ideal?

Ich denke, es kommt von Mohammed. Er wurde vom Suchenden zum stolzen, bewunderten Kämpfer. Damit verkörperte er das Beduinen-Ideal. Viele Muslime streben danach. Deswegen ist Mohammed so faszinierend für sie. Ein leidender Knecht wie Jesus, der gedemütigt und geschlagen wurde, ist das Gegenteil davon.

Der Westen gilt eher als „Schuld-Kultur“. Was bedeutet das für den Glauben?

Im Westen geht es um richtig oder falsch. Hier wird Sünde stark betont. Wobei sich Sünde vor allem auf den Einzelnen bezieht, nicht auf eine Gruppe, wie es in Scham-und-Ehre-Kulturen des Nahen Ostens und Asiens ist. Das wirkt sich auch auf unsere Art von Evangelisation aus. Was betonen wir immer wieder? Sünde, Sünde, Sünde. Eines der größten Hindernisse für Muslime, um zum Glauben an Jesus zu kommen, ist das Konzept von Gnade und Vergebung. Sie kommen viel eher durch etwas anderes zum Glauben: Liebe. Danach kommt das Verständnis für Sünde, Gnade, Vergebung. Warum also damit beginnen?

In Deutschland wird derzeit intensiv um die Integration muslimischer Flüchtlinge gerungen. Was würden Sie raten?

Die große Frage ist: Wie kann ich zum Beispiel meine afghanische Identität behalten und gleichzeitig die deutsche Kultur akzeptieren?

Denn ansonsten würde das für Sie Scham bedeuten.

Genau. Als ich Christin wurde und dann Afghanistan besuchte, habe ich mich zum ersten Mal in meine afghanische Kultur verliebt: Familie, Gastfreundschaft, Treue und Gemeinschaft. Diese Werte habe ich in meinen neuen Glauben übertragen. Jesus will nicht, dass wir unsere Herkunft verachten. Ich glaube, er hat mich in einer afghanischen Familie aufwachsen lassen, damit ich später das Evangelium an mein afghanisches Umfeld authentisch weitergeben kann.

Noch gibt es viel Hass zwischen Muslimen und Christen.

Es gibt liebevolle, friedliche, gastfreundliche Muslime. Selbst wenn ihr größter Feind zur Tür hereinkommt, würden sie ihm das Beste anbieten, was sie haben. Und es gibt die Terroristen, die Extremisten, die Hass gegen Christen lehren. Unter Christen gibt es die, die wissen, dass Gottes Herzschlag immer auch den Nationen gilt. Sie wissen, dass Muslime eigentlich auch Teil von Gottes Heilsplan sind, aber im Moment noch in der Wüste wandern. Dass es weniger um bloße Konversion geht als um echte Versöhnung. Und dann gibt es auch Christen, denen es an Mitgefühl und dem Verständnis von Gottes Geschichte mit dem Menschen mangelt. Sie haben die Bibel mehrfach durchgelesen, aber sie haben die Quintessenz nicht verstanden – genau wie die Pharisäer.

Weil sie eine einseitige Perspektive auf die Schrift haben?

Und weil sie dem Kern der Bibel – liebe Gott und deinen Nächsten, mache Menschen zu Jüngern, erreiche die Welt – Traditionen hinzugefügt haben, die sie einengen und beschweren wie ein Joch. Sie fühlen sich wohl darin, tragen aber nichts zu Gottes Plan bei.

Wie sollten Christen Muslimen begegnen?

Wir brauchen Beziehungen. Beziehungen verändern alles, sogar das Gebetsleben. Vor unserer Hochzeit lernte mein Mann, ein weißer US-Amerikaner, meine Eltern kennen. Er wusste, dass mein Vater ein angesehener Muslim ist, dem wir dienen und vor dem wir uns verneigen. Mein Vater kniete sich vor meinem Mann nieder und reichte ihm Tee, ihm, dem Amerikaner. Mein Vater hatte seine Ehre vernachlässigt, um meinem Mann zu dienen. Das stellte die Welt meines Mannes auf den Kopf. Seitdem betet er anders, leidenschaftlicher, sorgsamer, er fleht Gott um die Errettung meines Vaters an. Sein Verständnis war vom Kopf ins Herz gerutscht.

Wie sollten Christen mit Muslimen über schwierige Fragen des Glaubens sprechen, zum Beispiel das Kreuz?

Dazu eine Geschichte: Es hat viel Liebe gebraucht, um meinen stolzen muslimischen Vater davon zu überzeugen, dass er mich auf unserer christlichen Hochzeit vor den Altar führt. Als Ausgleich planten wir zusätzlich ein afghanisch-traditionelles Hochzeitsfest mit 300 Gästen am Wohnort meiner Eltern. Am Abend vorher sagte mein Mann mir am Telefon, er könne seinen Pass nicht finden. Er verpasste seinen Flug – und sein eigenes Hochzeitsfest. Wir haben meinem armen Vater keine Ehre gebracht, sondern unfassbar große Schande – vor Hunderten von Menschen. Es hat drei Monate gedauert, bis ich jeden Hochzeitsgast mit einem Geschenk im Gepäck zu Hause besucht hatte, um die Ehre meines Vaters wiederherzustellen. So ist es auch mit dem Kreuz: Wir Menschen haben durch den Fall dem Vater Schande gebracht. Wir sind durch diese Scham – nennen wir es mal nicht Sünde – vom Vater getrennt.

Scham war das erste, was Adam und Eva nach Aufdeckung ihrer Tat empfanden.

Genau. Und mein Mann hatte Schande über meinen Vater gebracht.

Er war es, der die verbotene Frucht gegessen hat.

Und ich war diejenige, die als Vermittlerin die Ehre meines Vaters wiederherstellte.

Sie waren also im übertragenen Sinne Jesus.

Bildlich gesprochen, ja. Denn nur durch die Besuche bei den afghanischen Gästen kam es zur Versöhnung. Das, was Jesus getan hat, erleben Muslime also in ihrem Alltagsleben. Ist es nicht verblüffend, dass es eigentlich so einfach wäre, das Evangelium gegenüber Muslimen zu erklären? Sie leben doch ohnehin in einer nahöstlichen Kultur des ersten Jahrhunderts.

Der Kultur des Neuen Testaments.

Und trotzdem lesen wir die Bibel mit den Augen des 21. Jahrhunderts. Wenn wir sie mit der Brille der Kultur lesen würden, in der Jesus gelebt hat, würden wir eine geheime Schatzkammer entdecken, die die Botschaft Jesu so viel reicher erscheinen ließe – und wir lassen uns das entgehen. Wir haben Jesus in eine westliche Schublade gesteckt, die Muslime nicht erreicht. Wir müssen die Empfindungen von Muslimen verstehen. Paulus war ein Meister darin, wie er in seiner Rede auf dem Areopag zeigte. Er nahm die Kultur der Menschen wahr und ging auf sie ein.

Wie sind Sie Christ geworden?

Es hat bei mir sehr lange gedauert. Ich durfte als Muslimin in einem Mayadorf in Mexiko in einer christlichen medizinischen Hilfsorganisation arbeiten. In dieser Zeit bin ich sogar eine noch frömmere Muslimin geworden, weil ich meine Identität in Frage gestellt sah. Ich habe die Bibel von Genesis bis Offenbarung gelesen, ohne mich zu bekehren, das kam später. Nie vergessen werde ich aber, wie ich zum ersten Mal Christen beim Beten zugesehen habe. Ich dachte: „Das ist ja super schräg! Mein Vater würde mich umbringen, wenn er wüsste, dass ich hier bin!“ Wenn heute muslimische Flüchtlinge das erste Mal ein christliches Gebet hören, flüstere ich ihnen ins Ohr: „Super schräg, oder?“ Wir müssen Muslime da abholen, wo sie sind, und sie dann in die Tiefe und die Schönheit des Gebetes führen, anstatt es ihnen einfach nur zu erklären.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Nicolai Franz. (pro)

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 5/2016 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro kostenlos unter der Telefonnummer 06441/915151, via E-Mail an info@pro-medienmagazin.de oder online.

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Eine Antwort

  1. Genialer Bericht, sehr aufschlussreich! Hilft Muslime besser zu verstehen und begegnen.

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