Wie die Kirche handlungsfähig bleibt

Die Zahl der Kirchenmitglieder könnte sich im Vergleich zu 2017 bis 2060 halbieren, prognostizierte die „Freiburger Studie“. Doch so lang wird es nicht mehr dauern. Wo die Kirche sparen und dabei neu entdecken kann, was sie im Kern ausmacht.
Von Norbert Schäfer
Reschensee

Die evangelischen Landeskirchen „haben von 2017 bis 2024 dreieinhalb Millionen Mitglieder verloren“, sagt Steffen Bauer, langjähriger Leiter der Ehrenamtsakademie der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er analysiert seit Jahren Statistiken und Finanzen der Landeskirchen und begleitet deren Veränderungsprozesse in seiner Publikation „Landeskirchen unterwegs“. Sein nüchternes Fazit: „Wenn es so bleibt, ist 2045 das neue 2060.“ Das heißt, die Kirchen werden schon früher auf die Hälfte ihrer Mitglieder geschrumpft sein, als die viel beachtete „Freiburger Studie“ mit Bezug auf die Zahlen von 2017 berechnete. Die Folge: Finanzielle Spielräume schwinden dramatisch. Die württembergische Landeskirche etwa muss in den nächsten zehn Jahren rund eine Milliarde Euro einsparen – drastische Einschnitte in Verwaltung und Personal sind unumgänglich. Die Evangelische Kirche in der Pfalz hat auf ihrer Synode im Mai der Neustrukturierung der Kirchenbezirke zugestimmt. Aus derzeit 15 Bezirken werden vier große Einheiten mit je rund 75.000 Gemeindegliedern. „Statt einer Fülle von Einzelhaushalten nur noch vier – das ist ein riesiger Unterschied an Verwaltungsaufwand und Kosten“, sagt Bauer. Vergleichbare Umstrukturierungen sind auch in anderen Landeskirchen im Gange.

Strukturelle Reformen und neue Modelle kirchlicher Arbeit

Ein besonders tiefgreifender Schritt: der Verzicht auf die Verbeamtung neuer Pfarrerinnen und Pfarrer. Das Rheinland will vorangehen. „Wenn Landeskirchen eine Vikarin im Beamtenverhältnis oder privatrechtlich anstellen, macht das über die gesamte Zeit der Versorgung einen Unterschied von bis zu einer Million Euro“, erläutert Bauer die rheinischen Berechnungen. Die langfristigen Pensionsverpflichtungen seien kaum noch tragbar. Daher setzen Kirchen zunehmend auf Angestelltenverhältnisse – ein „Traditionsbruch“, wie Bauer zugibt, aber ein notwendiger, wenn die Kirchen ihre Handlungsfähigkeit langfristig sichern wollen. Ein weiterer Ansatz: Weg vom Einzelkämpfertum, hin zur Teamarbeit. In sogenannten Nachbarschaftsräumen – einem Modell, in dem mehrere ehemals selbstständige Kirchengemeinden ihre Kräfte bündeln – arbeiten künftig Pfarrer, Kirchenmusikerinnen, Diakone und Ehrenamtliche gemeinsam. Aufgaben sollen gabenorientiert verteilt werden.

Ein massiver Kostentreiber sind die Gebäude. Viele Kirchen sind historisch bedeutend, aber energetisch marode und teuer im Unterhalt. Doch genau diese Steine erdrücken vielerorts die Haushalte. „Das Entscheidende ist nicht der schönste Bau, sondern die Frage, wie wir als Gemeinde lebendig bleiben können.“ Auch die Bürokratie belastet zunehmend. Komplexe Verwaltungsprozesse, neue Software, staatliche Auflagen – all das bindet Ressourcen.

Nicht überall verläuft der Wandel gleich. Während einige Landeskirchen mutige Schritte gehen, tun sich andere schwer. Doch: „Je länger die nötigen Schritte vertagt werden, desto schmerzhafter werden sie“, sagt Bauer. Trotz aller Herausforderungen sieht er Chancen. „Die Kirche lebt nicht in erster Linie von Steuereinnahmen, sondern vom Engagement der Menschen.“ Bauer sieht in den schwindenden Finanzmitteln die Chance für eine theologische Neubesinnung: „Wir verändern das Bild von dem, was Gemeinde eigentlich ist, zum Positiven.“ Das Ziel: mehr Zeit und Kraft für das geistliche Leben – Gottesdienste, Seelsorge, Bildung und Diakonie. Dass Reformen auch inspirieren können, zeigt in seinen Augen das Format „einfach heiraten“ in Bayern: spontane Trauungen ohne große Planung. Solche kreativen Formate zeigten, dass es auch in schwierigen Zeiten Aufbrüche geben kann. „Es gibt genügend Beispiele, wie sich die Kirche auch in schwierigen Zeiten gut verhalten kann.“ Für die Zukunft fordert er mehr Zusammenarbeit der Landeskirchen, insbesondere bei Digitalisierung und beim Ressourcenmanagement.

Geistliche Erneuerung und Visionen für die Zukunft

„Je stärker wir uns geistlich erneuern und strukturell vereinfachen, desto lebendiger wird die Kirche“, sagt Bauer, und weiter: „Die Kirche der Gegenwart ist vor allem eine segnende Kirche. Sie bringt Gottes Segen zu allen Menschen an alle erdenklichen Orte und das zu ganz unterschiedlichen Zeiten.“ Dahinter steht ein theologischer Paradigmenwechsel: weg von der Institution, hin zur Beziehung. Diese Neuausrichtung zeige sich besonders in der liturgischen Praxis. Amtshandlungen wie Taufen, Trauungen oder Bestattungen würden zunehmend als Segenshandlungen verstanden, als kirchliche Angebote, die die Bedeutung des christlichen Glaubens für die jeweilige Lebenssituation vermittelten. Doch geistliche Erneuerung ist für Bauer mehr als eine Reform der Kasualien. „Sie ziele auf eine tiefgreifende Veränderung der Haltungen.“ Es geht nicht um ein „Mehr vom Alten“, sondern um ein neues Selbstverständnis. „Was Kirche ist und sein will, kann nicht länger aus historischen Selbstverständlichkeiten abgeleitet werden.“ Bauer sieht die Zukunft der Landeskirchen als dienende, ermöglichende Institutionen ohne bürokratische Hindernisse und Genehmigungsvorbehalte in einer Gesellschaft, die sich rasant verändert. „Der Glaube soll wieder spürbar, erfahrbar und relevant werden mitten im Leben der Menschen.“

Auch außerhalb der Landeskirchen ist der Veränderungsdruck groß. Der Theologe Martin Knispel, der mit seiner Firma „Celius-Beratung“ Organisationen und Unternehmen bei Veränderungsprozessen begleitet, beobachtet, dass auch freie Werke wie die der Gemeinschaftsbewegung unter Mitgliederschwund, Finanzknappheit und Fachkräftemangel leiden. Zwar gebe es Neugründungen, doch überwiege der Trend zur Verkleinerung. Viele Verbände, über Jahre gewachsen, kämpfen mit steigenden Kosten. „Es braucht Mut und gelegentlich einen beherzten Schnitt, um die Handlungsfähigkeit zu bewahren“, sagt Knispel. Freie Werke seien dabei oft agiler: „Einen Landesverband kann man in zwei bis drei Jahren umbauen. In einer beamtenähnlichen Kirchenstruktur geht das nicht so einfach.“

Knispel empfiehlt proaktives Handeln: „Veränderungsprozesse müssen dann eingeleitet werden, wenn man noch die Kraft zum Handeln hat.“ Wichtig sei, frühzeitig Entscheidungsträger einzubinden, Zeitrahmen zu setzen und externe Beratung zu nutzen. Eine Reform ohne konkretes Bild für die Zukunft bringe wenig, sonst verlängere eine Reform nur den Sterbeprozess: „Es braucht eine tragfähige, geistliche Vision über einen mehrjährigen Zeitabschnitt. Nur sie hat die Kraft, in die Zukunft zu tragen.“ Dazu gehöre auch ein realistischer Blick auf die Finanzen: „Wie wäre es mit einem Fünf-Jahres-Finanzplan?“, fragt Knispel. Nur wer Einnahmen und Ausgaben ehrlich kalkuliert, könne tragfähige Entscheidungen treffen. Am Ende geht es für Knispel wie für Bauer nicht nur um Strukturen, sondern um die Haltung: „Was willst du von uns, Gott? Wohin sollen wir gehen? Was sollen wir loslassen?“ Nur mit diesen Fragen sei Kirche nicht nur strukturell, sondern auch geistlich zukunftsfähig.

Der Artikel ist erstmals in der Ausgabe 4/2025 des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Das Heft können Sie hier kostenlos bestellen.

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