„Viele Christen stehen gegen Trump“

Der US-Evangelikale Shane Claiborne widerspricht Donald Trump öffentlich, demonstriert gegen seine Politik und betet für bessere Zeiten. PRO hat ihn gefragt, wie er mit frommen Trump-Unterstützern umgeht und ob er mit Franklin Graham beten würde.
Von Anna Lutz

PRO erreicht Shane Claiborne im Auto, als er gerade von einer Gerichtsverhandlung kommt. Weil er zusammen mit anderen Christen an Karfreitag vor der Firmenzentrale des Rüstungskonzerns „Lockheed Martin“ demonstriert hat, wurde er zu 50 Sozialstunden verurteilt. Die Aktion war vor allem gegen Waffenlieferungen an Israel gerichtet und ein Protest gegen die vielen Toten im Gazastreifen. 

PRO: Shane, vor einem Monat wurden Sie festgenommen, weil Sie in der Rotunde des US-Kapitols gebetet haben. Sie haben dort gegen Donald Trumps neues Steuergesetz protestiert, er selbst nennt es den „big beautiful bill“, das große, schöne Gesetz. Was haben Sie dagegen?

Shane Claiborne: Nunja, wir nennen es den „bad, ugly bill“, das böse, hässliche Gesetz, denn tatsächlich ist nichts daran schön. Zumindest nicht für die Verletzlichsten in unserer Gesellschaft, die auch im Evangelium und in der Lehre Jesu zentral sind. Dieses Gesetz ist zerstörerisch. Das wollten wir zeigen, indem wir im Zentrum der Macht beten und dabei die Menschen in den Mittelpunkt stellen, die am härtesten davon betroffen sind: Veteranen, Obdachlose, Kranke, die auf Medikamente angewiesen sind, die sie mit dem neuen Gesetz nicht mehr bezahlt bekommen werden. Jesus segnet in der Bergpredigt die Armen, die Barmherzigen, die Friedvollen, die, die leiden. Und dieses Gesetz ist das Gegenteil davon, es ist ein Fluch für diese Menschen.

Das Gesetz sieht mehr Ausgaben für das Militär und den Grenzschutz vor, im Gegenzug soll es Einschnitte bei der Gesundheitsfürsorge sowie bei der Vergabe von Lebensmittelmarken an Bedürftige geben. Sie haben Gott in Ihrem Gebet um ein Wunder gebeten. Wie soll das aussehen? 

Martin Luther King hat es mal sehr klar ausgedrückt: „Ein Land, das Jahr für Jahr mehr für seine Verteidigung ausgibt als für Sozialprogramme, steht vor dem spirituellen Tod.“ Ich glaube, dass Gebet immer von Handlungen begleitet sein sollte. Wenn wir Gott darum bitten, einen Berg zu versetzen, dann könnte es passieren, dass er uns eine Schaufel gibt. Das heißt nicht, dass wir unsere Gebete nicht ernst meinen. Aber sie sind immer begleitet von Aktionen. Uns ist auch wichtig, wo wir beten. Denn so ist das Gebet auch eine Form des Protests. Ironischerweise ist es nämlich wirklich illegal, in der Rotunde des Kapitols zu beten – zumindest uns.

War wirklich das Gebet illegal oder eher die Art der Demonstration?

Wir sind wegen einer ganzen Reihe von Dingen beschuldigt worden, zum Beispiel weil wir den Verkehr blockiert haben sollen. Tatsächlich haben wir nur gebetet und gesungen. Und das noch nicht einmal in einer Weise, die Besucher des Kapitols aufgehalten oder gestört hätte. Ich meine, das ist ein wirklich großes Gebäude, in dem es übrigens auch schon zuvor Lobpreis und Gottesdienste gegeben hat… 

…etwa bei der Amtseinführung Donald Trumps…

Insofern ist die Handhabung uns gegenüber diskriminierend. Aber das ist gar nicht unser Punkt. Das Steuergesetz ist unmoralisch. Es wird Menschenleben kosten. Darauf möchten wir aufmerksam machen. Und wir werden wieder zum Kapitol gehen, um für das Richtige einzustehen. Unser Glaube lehrt uns Liebe statt Angst. Also werden wir nicht ängstlich sein. Es wird schon am Pfingstmontag ein weiteres Event dort geben, bei dem wir hunderte Unterstützer erwarten, auch wenn ich selbst dann nicht dabei sein kann. 

Sie sind in der Rotunde des Kapitols festgenommen worden. Wie hat sich die Polizei Ihnen gegenüber verhalten?

Unser Glaube lehrt uns, dass wir nicht gegen Menschen aus Fleisch und Blut kämpfen, sondern gegen Mächte und Gewalten. Für uns bedeutet das, dass wir nicht zum Kapitol gegangen sind, um gegen die Polizei zu kämpfen. Nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 bemühen wir uns sehr darum, einen anderen Ton an den Tag zu legen. Wir wollen den Leuten zeigen, dass wir eben nicht solche „Sturm auf das Kapitol“-Christen sind, sondern eher diese „Liebe deinen Nächsten“-Christen. Und das bedeutet natürlich auch, dass wir Menschen lieben, die anderer Meinung sind als wir. Tatsächlich haben wir dann erlebt, wie viele von den Polizisten das Gespräch mit uns gesucht und klar zum Ausdruck gebracht haben, dass sie sich um ihr Land sorgen. Sie haben respektiert, was und in welcher Weise wir es getan haben.

Acht von zehn weißen Evangelikalen haben Donald Trump gewählt, sogar jetzt unterstützen ihn noch sieben von zehn. Wieso?

Ich finde es sehr wichtig, dass wir den Aspekt von Hautfarbe und Zugehörigkeit hier mitbedenken. Lange Zeit hieß es einfach: Evangelikale wählen Trump. Es ist wichtig, zu differenzieren. Mindestens über 80 Prozent afroamerikanischer Frauen stellen sich gegen Trump, in manchen Umfragen sind es sogar 90 Prozent. Und viele von ihnen sind in schwarzen, oft pfingstlerischen Kirchen der USA aufgewachsen. Ihr Glaube sagt ihnen, dass sie gegen die Werte und Prioritäten von Donald Trump aufstehen müssen. Manchmal wird dieser Fakt übertüncht von den sehr lauten Stimmen weißer evangelikaler Männer wie Franklin Graham oder Robert Jeffress. Wir sollten ihnen nicht so viel Macht geben. Denn viele von uns Christen geben sich sehr viel Mühe, deutlich zu machen, dass sie aufgrund ihres Glaubens gegen die Politik Trumps stehen. Und noch etwas müssen wir verstehen: Was gerade passiert, geht weit über Trump hinaus. 

„Viele Christen heute wollen lieber einen Jesus sehen, der ein Maschinengewehr trägt als jenen Jesus, der ein Kreuz trug und seine Feinde so sehr liebte, dass er für sie starb.“

Wie das?

Wenn viele Menschen heute fordern: „Make America great again“, Trumps Slogan, dann meinen sie oft: Make America white again. Was wir heute erleben, sind die Ausläufer der ersten schwarzen Präsidentschaft der USA mit Barack Obama, der Black-Lives-Matter-Bewegung und auch dem allgemeinen Erwachen eines Bewusstseins für strukturellen Rassismus. Ich für meinen Teil bin besorgt wegen Trump. Aber noch mehr sorge ich mich, weil Christen ihn verteidigen. 

Was genau meinen Sie?

Die Werte, die Jesus uns in der Bergpredigt oder in den Seligpreisungen mitgegeben hat, werden andauernd von Trump negiert. Nur deshalb war er so beleidigt, als Bischöfin Mariann Edgar Budde das Evangelium des Mitgefühls, der Liebe und der Vergebung direkt in seiner Anwesenheit gepredigt hat. Wer das für eine Beleidigung hält, der sollte erstmal in die Bergpredigt schauen! Insofern erleben wir gerade neben all den anderen auch eine spirituelle Krise. Viele Christen heute wollen lieber einen Jesus sehen, der ein Maschinengewehr trägt als jenen Jesus, der ein Kreuz trug und seine Feinde so sehr liebte, dass er für sie starb. Und was mich daran am meisten beunruhigt ist, dass jemand wir Franklin Graham, der Sohn des Evangelisten Billy Graham, nicht erkennt, welchen Bärendienst er mit seiner Trumpunterstützung dem Zeugnis eines authentischen evangelikalen Glaubens erweist. Weil weiße Evangelikale Donald Trump so sehr lieben, hören viele Leute nicht mehr hin, wenn sie von ihrer Liebe zu Jesus erzählen. Das ist für mich unfassbar. Denn ausgerechnet Billy Graham sagte: „Es würde mich beunruhigen, wenn es eine Hochzeit gäbe zwischen dem religiösen Fundamentalismus und der politischen Rechten.“

Bild von Shan Claiborne Foto: Zach Charbonneau

Shane Claiborne

Shane Claiborne gilt als linksevangelikal und gehört zur Gruppe der „Red Letter Christians“, die sich besonders für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Ihr Name bezieht sich auf die rot gedruckten Worte Jesu in der englischsprachigen King-James-Bibel. Claiborne ist Gründer der Lebensgemeinschaft „The Simple Way“ in Philadelphia, in der Singles und Familien ähnlich einer Klostergemeinschaft zusammenleben, um sich für Benachteiligte in der Gesellschaft einzusetzen. Er ist außerdem Autor vieler Bücher, unter anderem „Ich muss verrückt sein, so zu leben“ oder „Die Jesus-Revolution“. Claiborne ist bekannt für politische Aktionen, etwa ein Gebet in der Rotunde des Kapitols, für das er jüngst inhaftiert wurde.

Macht Sie die fromme Unterstützung für Trump wütend? Sie beklagen schon lange eine evangelikale politische Einseitigkeit bei Themen wie Abtreibung oder Israel…

Ich möchte auf Jesus schauen. Es frustrierte ihn am allermeisten, wie sich die religiösen Menschen verhielten. Wenn er von der Schlangenbrut spricht, dann meint er damit die religiöse Elite. Er hat nie so über Menschen gesprochen, die den Glauben noch nicht kannten. Sondern über die, die ihren Glauben nutzten, um andere zu verletzen. Das ist also alles nicht neu. Ja, es ermüdet mich manchmal und doch bin ich auch ermutigt, durch all diejenigen, die den Weg mit uns gehen. Jeder Mensch ist zum Bilde Gottes geschaffen. Deshalb sollten wir jedes Leben schätzen. Die Opfer von Waffengewalt in Amerika oder Menschen, die durch die Todesstrafe sterben. Wir können nicht sagen, wir sind Pro-Life und diese Dinge ignorieren. Junge Christen sehen das immer mehr so. Sie sind besorgt wegen unserer Waffengesetze und der Todesstrafe. Sie kümmern sich nicht mehr einfach nur um das Thema Abtreibung. Mitgefühl ist ja keine begrenzte Ressource. Wir können uns um die israelischen Geiseln in den Händen der Hamas sorgen und die betrauern, die am 7. Oktober gestorben sind. Und gleichzeitig können wir klagen über die vielen Kinder, die in Gaza sterben. Wir müssen gegen jede Form von Hass und Gewalt aufstehen. Das sehe ich immer mehr bei jungen Menschen, eine wachsende Bewegung, und das stimmt mich auch positiv, sogar in schweren Zeiten wie diesen. 

Was erwarten Sie dieser Tage von Christen?

In extremen Zeiten werden auch wir zu Extremisten. Aber die Frage ist: Sind wir Extremisten des Hasses? Oder der Liebe? Das hat Martin Luther King vor 50 Jahren gesagt. Es gilt auch heute. Taten wie den jüngsten Angriff auf einen jüdischen Gedenkmarsch in Boulder begehen Extremisten des Hasses. Wir müssen die Liebe proklamieren. Wir müssen unsere Stimmen erheben für die Armen. Und wenn nötig, dafür ins Gefängnis gehen. Weil wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Nicht jeder muss soweit gehen. Aber jeder braucht moralischen Mut. So wie die Footballspieler, die sich gegen Rassismus beim Superbowl hinkieten. So wie Rosa Parks, die sich im Bus nicht nach hinten setzen wollte, wie es für Schwarze vorgesehen war. Wir sehen in der Geschichte, dass solcher moralischer Mut sogar Parteigrenzen und Grenzen politischer Überzeugung überwinden kann. Selbstgerechtigkeit ist toxisch und die gibt es links und rechts. Stattdessen brauchen wir Milde im Umgang miteinander. Gnade. Wir müssen einander zuhören und fragen: Was würde die Liebe tun? Das fehlt in Trumps Gesetz ebenso wie in unserer Gesellschaft heute. 

„Ich glaube wirklich, dass die Kirche ihren Weg verlässt und den Versuchungen erliegt, die Jesus in der Wüste erlebt hat: Macht und Gewalt.“

Sehen Sie eine Bewegung aus der Kirche heraus, die so lebt?

Ja, aber ich würde das nicht in Zahlen messen. Jesus hat mit zwölf Jüngern angefangen und selbst die sind nicht alle gut durchgekommen. Ich glaube wirklich, dass die Kirche ihren Weg verlässt und den Versuchungen erliegt, die Jesus in der Wüste erlebt hat: Macht und Gewalt. Die Kirche muss aber das Gewissen des Staates sein und weder sein König noch sein Diener. Um dieses Gewissen zu sein, braucht es nicht unbedingt viele. Aber es braucht überzeugte Menschen.   

Sie sind zutiefst politisch und erklären Ihre Haltung stets mit Ihrem Glauben. Doch es gibt unterschiedliche christliche Sichtweisen auf Themen wie LGBTQI+, Israel, Abtreibung und vieles mehr. Warum wähnen Sie sich auf der richtigen Seite?

Politik kommt von Polis und bezeichnet eigentlich die Art, wie wir zusammenleben. In diesem Zusammenleben muss Liebe die Basis sein. Die goldene Regel. Also ist immer diese eine Frage wichtig: Was würde die Liebe tun? Es geht nicht darum, was ich sage. Es geht darum, was Gott sagt. Und Gott ist die Liebe. Folglich muss das unser Leben prägen. Vor allem aber muss es die Liebe sein und nicht die Angst. Donald Trump adressiert immer die Angst. Das darf uns nicht bestimmen. 

Würden Sie sich also mit Franklin Graham in Liebe zusammensetzen und gemeinsam mit ihm beten?

Oh, darum habe ich ihn schon einmal gebeten! Wir hatten eine Konferenz in North Carolina und haben ihn eingeladen. Wir wollten mit ihm darüber sprechen, wie wir mit Donald Trump umgehen können und sollten und auch, wie unser christliches Leben aussehen kann. Und natürlich hätten wir mit ihm gebetet. Er hat sich aber nie auf unsere Einladung zurückgemeldet. Einige meiner Familienmitglieder gehen tatsächlich auch in dieselbe Kirche wie Franklin Graham. Also: Ja, ich würde sofort mit ihm beten. Ich wäre sehr froh darüber. Aber ich würde auch gerne mit ihm über all die Dinge sprechen, die wir hier auch besprochen haben. 

Vielen Dank für das Gespräch!

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