Sie sitzen auf dem staubigen Steinboden, in den Kirchenbänken oder stehen vor dem Altar. Die St. Edwards Kathedrale in Philadelphia ist gefüllt mit Obdachlosen, Studenten, Alternativen, Müttern, Vätern, Kindern. An diesem Abend verbinden sie nur zwei Dinge: Der Traum von einer anderen Welt und das Stück Brot in ihrer Hand. Für ihr vielleicht letztes gemeinsames Abendmahl konnten sie keine Hostien finden. Stattdessen gibt es trockene Brötchen und schal gewordenen Traubensaft. Die abrissreife Kirche, die vielen Obdachlosen seit Monaten als Schlafstätte dient, soll geräumt werden. Doch es gibt eine Gegenbewegung: Studenten der städtischen Universität sind gekommen, um die Kirche besetzt zu halten, so lange, bis die Evakuierung abgesagt wird.
Während vor den Toren Polizisten auf ihren Einsatz warten, werden die Demonstranten im Innern des Gebäudes still zum Gebet. Dann erklingt eine tränenerstickte Stimme: "Jeder, der hier bleibt, riskiert eine Festnahme. Wer dennoch bleiben will, gibt bitte Handzeichen." Viele Arme gehen nach oben, auch die eines Mannes mit Rastazöpfen und Kopftuch. "Warum machst du das?", fragt ihn ein kleines Mädchen. "Möchtest du hier bleiben?", fragt Shane Claiborne zurück. Sie bejaht. "Und deshalb melde ich mich", sagt er. Es war vor allem dieser Abend, der Claibornes Leben für immer veränderte. Die Kirche wurde nicht evakuiert. Durch das große Medienecho fanden die Obdachlosen Hilfe und Unterkünfte. Am Ende musste niemand mehr in den alten Gemäuern übernachten, an deren Außenwänden am Räumungsabend ein Banner mit der Aufschrift flatterte: "Wie können wir sonntags einen Obdachlosen anbeten und ihn montags abweisen?"
Claiborne hat diesen Abend nie vergessen. Aus dem Studenten ist ein Extremist der Nächstenliebe geworden. Heute kann man ihn optisch kaum noch von den Obdachlosen unterscheiden, die er damals schützte. Die langen verfilzten Rastazöpfe werden von einem Kopftuch aus der Stirn gehalten. Seine Füße stecken in Schuhen, die an vielen Stellen aufgeplatzt sind und wieder zusammengenäht wurden. Der braune Pullover ist hinten länger als vorne, die Nähte sind schief und ausgefranst. Claiborne hat sich eins gemacht mit denen, für die er kämpft. Er lebt in einem der ärmsten Stadtteile von Philadelphia in einer Lebensgemeinschaft, die Nächstenliebe so weitergeben will, wie es die Bibel ihrer Ansicht nach lehrt. Ohne Kompromisse. "Jesus hat mein Leben ruiniert", sagt der 34-Jährige, wenn man ihn nach seiner Bekehrung fragt. Dabei lächelt er, als könne es nichts Schöneres geben. Lediglich zwei breite Ohrringe zeugen noch von einem früheren Leben, in dem er zu den coolen Jungs der High-School gehörte.
Jesus – wie ein Sonderangebot bei Wal-Mart
Claiborne wächst in Tennessee auf, mitten im amerikanischen "Bible Belt". Hier ist es außergewöhnlich, nicht gläubig zu sein. Gemeinde reiht sich an Gemeinde, eine christliche Veranstaltung löst die andere ab. Claiborne lernt den Glauben in einer methodistischen Freikirche kennen, nimmt ihn für sich an, arbeitet in der Gemeinde mit und besucht christliche Sommercamps und Gottesdienste. "Manchmal kam es mir vor, als sei Jesus ein Supersonderangebot bei Wal-Mart", sagt er heute über seine Jugend. Sich zu bekehren, wiedergeboren zu werden, sei toll gewesen, aber nicht authentisch genug. Er habe das Christsein konsumiert, als sei er an Bulimie erkrankt: Essen und wieder erbrechen, ohne zu verdauen. Die Botschaft hören, sie weiter erzählen, aber nie verstehen, was sie wirklich meint.
Während seines Studiums in Pennsylvania, Illinois und später am Willow Creek College beginnt Claiborne, zu verdauen. Das Ergebnis ist radikal. Er lernt Studenten kennen, die regelmäßig in die Stadt gehen, um mit Obdachlosen ihre Zeit zu verbringen. Er geht mit und entdeckt eine neue Welt: "Es wurde immer schwieriger, in unsere gemütlichen Zimmer zurückzugehen und unsere Nächsten in ihren Pappkartons zurückzulassen", erinnert er sich heute. Die Gruppe beginnt, auch ihre Nächte auf der Straße zu verbringen. "Ich habe von den Tränen obdachloser Mütter mehr gelernt, als je durch irgendeine systematische Theologie", sagt Claiborne.
Nach dem Abenteuer von St. Ed beschließen die jungen Christen, ihr einziges noch lebendes Vorbild in Sachen Nächstenliebe aufzusuchen. "Liebe Mutter Teresa, wir wissen nicht, ob Sie in Kalkutta Praktika anbieten, aber wir würden gern mal vorbei kommen und uns ein bisschen umsehen", schreiben Claiborne und eine Freundin damals an die Nonne. Als keine Antwort kommt, beginnt Claiborne, Klöster und katholische Einrichtungen in den USA anzurufen. Schließlich erreicht er eine Oberin in der Bronx, die ihm eine Nummer in Kalkutta gibt. Betend ruft er in Indien an. Und jemand nimmt tatsächlich den Hörer ab.
"Ja?"
"Hi, ich rufe aus den USA an. Ich wollte eigentlich mit Mutter Teresa sprechen oder mit den Missionarinnen der Nächstenliebe – Ich würde sie gerne besuchen."
"Wir sind die Missionarinnen der Nächstenliebe. Ich bin Mutter Teresa."
Sie lädt Claiborne nach Kalkutta ein – ohne zu wissen, wo er dort schlafen wird und wer ihn versorgt. Betten für Gäste gibt es in den Räumlichkeiten der Nonnen nicht.
"Gott sorgt für die Lilien und die Spatzen, Gott wird für euch sorgen. Kommt einfach."
Das tut der Student. Drei Monate lang arbeitet er mit den Missionarinnen der Nächstenliebe unter Leprakranken und Sterbenden. Vormittags hilft er in einem Waisenhaus für behinderte Kinder aus, nachmittags in einem Hospiz. Claiborne trifft Radikale wie ihn, die aus aller Welt angereist sind, um den Ärmsten zu helfen. Eine besondere Inspiration wird für ihn ein Deutscher namens Andy. In seiner Heimat war er wohlhabend gewesen, hatte dann angefangen, das Evangelium zu lesen, seine ganze Habe weggegeben und war nach Kalkutta gegangen, wo er seit zehn Jahren lebte.
"Ich war auf der Suche nach dem christlichen Glauben gewesen", erinnert sich Claiborne, "und ich hatte ihn gefunden. Ich hatte endlich einen wahren Christen kennengelernt." Als Claibornes Zeit in Kalkutta zu Ende geht, fühlt er sich, als reise er aus einer gesunden Gegend in eine kranke, als verlasse er zwar die Leidenden, kehre aber in ein Land zurück, das an Gefühllosigkeit stirbt.
Die Geburt eines neuen Mönchtums
"Nicht jeder muss radikal sein, aber jeder muss etwas tun", sagt Claiborne, wenn man ihn heute danach fragt, was echtes Christsein für ihn bedeutet. Sein eigenes Leben richtet sich mittlerweile nach zwei Prinzipien: Er will bei den Ärmsten sein und alles, was er hat, teilen. Beides verwirklicht er in der Gemeinschaft "The Simple Way", die er 1997 gemeinsam mit fünf anderen Studenten gründete. Er lebt er in Kennsington, einem Problemviertel in Philadelphia und verbringt seine Tage damit, zu beten, den Nachbarn bei Gartenarbeiten zu helfen oder Essen für Obdachlose zu kochen. Jeder, der in der "Simple Way"-Gemeinschaft lebt, muss sich an bestimmte Regeln halten. Damit alle überleben können, spendet jeder zehn Prozent seines Einkommens an die Gruppe. Jesus soll deren Leitfigur sein, Alkohol ist in den Räumlichkeiten verboten, alle leben entweder zölibatär oder sind verheiratet. Auch deshalb wird die von Claiborne ins Leben gerufene Bewegung als "Neues Mönchtum" bezeichnet. "Regeln machen es einfacher, gut zu sein", sagt er.
Immer wieder setzen sich die Christen für Obdachlose ein, etwa wenn die Stadt ihnen das Schlafen in öffentlichen Parks verbieten will. Dafür gehen Claiborne und seine Mitstreiter ins Gefängnis oder ziehen gar vor Gericht.
Claibornes Aktionen ziehen Kreise. Überall in den USA und weltweit gründen sich im Laufe der Jahre Gemeinschaften nach dem Vorbild des "Simple Way". "Wir tun nichts besonderes, jeder kann das", sagt Claiborne. Doch auch er scheitert gelegentlich an sich selbst – und an der Welt. Seit sechs Jahren besucht ihn eine Alkoholikerin. Immer wieder schenkt er der alten Frau Hosen, weil sie sich im Suff nass macht. Dieses Zerbrechen der Menschen an sich selbst könne er nicht ertragen. Es mache ihn manchmal sogar wütend, sagt er. Dann setzt er wieder dieses Lächeln auf: "Und wenn schon, sie wird auch im siebten Jahr noch zu uns kommen. Und auch dann werden wir ihr neue Hosen schenken."
Auch die Gemeinschaft muss mit Widrigkeiten kämpfen: 2007 brennt das Heim des "Simple Way" und der ganze Block ab. In einer stillgelegten städtischen Fabrik war ein Feuer ausgebrochen, das schnell auf die Nachbarhäuser übergegriffen hatte. Als Claiborne und seine Gemeinschaft den Brand bemerken, ist es schon zu spät, um die eigene Habe zu retten. Er selbst erwacht vom Klappern der Fenster durch die Hitze. Schnell rafft er einige Sachen zusammen. Dann flüchten die Christen. Nicht nur sie, auch zahlreiche Anwohner sind nun obdachlos. Doch damit endet die Geschichte des "Simple Way" nicht. Sie beginnt neu. Nach und nach bauen die Anwohner ihr Viertel wieder auf. Die Gemeinschaft kommt in unzerstörten Häusern unter. Dort, wo einst ihr Heim stand, errichten sie einen Spielplatz.
Am Wiederaufbau des Viertels arbeitet der "Simple Way" noch heute. Vor Gericht streitet die Gemeinschaft um eine Entschädigung für die Anwohner – schließlich war es ein städtisches Gebäude, in dem der Brand ausbrach. Claiborne streitet für die Rechte der Armen – friedlich. Eine Revolution der Nächstenliebe ist seine Vision. Das war sie wohl schon damals, in St. Ed, als er für die Obdachlosen kämpfte. Damals, als er den christlichen Glauben für sich entschlüsselte, wie Claiborne heute weiß: "In St. Ed, da bin ich wiedergeboren worden … noch einmal." (pro)