Unsichere Zukunft zwischen Hoffnung und Tragödie

Im Irak gibt es immer mehr christliche Konvertiten, die früher Muslime waren. Sie leben in einem von IS und Corona gebeutelten Land. Ein Gastkommentar von David Müller, ojcos-Stiftung.
Von PRO

Im Juli 2021, nach 16 Monaten „Corona-Zwangspause“ trat ich meine nunmehr siebte Irakreise an. Sie führte mich 14 Tage lang bei Temperaturen zwischen 40 und 45 Grad in das geschundene Zweistromland und stellte mich vor einige Herausforderung. Jedoch war die Reise dank der offenen Herzen unserer alten und neuen Freunde voller spannender Einblicke. Ich durfte spüren, wie großartig es sich anfühlt, wenn einem Menschen vertrauen – unbezahlbar.

Wie ist die Sicherheitslage im Irak?

„Irak? Wirklich, bei all den Sicherheitsrisiken?“, fragten einige meiner Freunde und Bekannten vor Antritt der Reise. Und ja, die Sicherheitslage ist noch weit schlimmer als das, was wir in Europa schon als unsicher bezeichnen würden. Es gibt dramatische Unterschiede je nach Region. Erbil etwa, Hauptstadt der Region Kurdistan-Irak. Hier ist das Leben relativ normal (jedenfalls wenn man irakische Maßstäbe anlegt) und man ist vergleichsweise wenigen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. Etwa in der Mitte der Gefährlichkeitsskala ist die irakische Hauptstadt Bagdad. Sie wird immer wieder von Raketenangriffen und Anschlägen heimgesucht. Am anderen Ende die Region Sinjar, das Heimatgebiet der Jesiden. Ein hochgefährliches Pflaster, wo unterschiedliche Milizen und Sicherheitskräfte um die Vorherrschaft ringen. Dem nicht genug, fliegt dort die türkische Luftwaffe auch regelmäßige Luftangriffe.

Das politische ist das eine. Hier gibt es Unterschiede, die hinsichtlich der anderen Sicherheitsgefahr nicht bestehen: Das Corona-Virus kennt nämlich keine politischen oder sonstigen Grenzen. Die Situation ist im ganzen Land sehr prekär. Im Sommer 2020 war der Irak weltweit unter den TOP 20 der von der Pandemie betroffenen Länder. Die auf dem Globus allenthalben zu spürenden Erleichterungen im Sommer 2021 machen aber wohl einen Bogen um den Irak, wo die höchsten Inzidenzzahlen seit Beginn der Pandemie zu verzeichnen sind. Große Pilgerströme in die heiligen schiitischen Stätten – mit Pilgern vor allem aus dem Iran – und fehlendes Verständnis für Schutzmaßnahmen stellen das Land vor eine große Herausforderung.

Zwei Katastrophen: Der IS und Corona

2014 hatten die Terroristen des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) ihren selbsternannten Gottesstaat ausgerufen und unvorstellbare Gräueltaten an all denjenigen verübt, die sich weigerten, ihrer radikalen Auslegung des Islam zu folgen. Die Schreckensherrschaft währte fast vier Jahre, aber Ende 2017 gelang es irakischen und internationalen Kräften, den IS zu besiegen und alle unter seiner Kontrolle befindlichen Regionen zu befreien.

Wiederaufbau war angesagt. Standen zunächst Projekte im Fokus, die das Überleben der geschädigten und vertriebenen Menschen sichern sollten, so verschiebt er sich aktuell hin zu nachhaltigeren Projekten, in dem in Infrastruktur, Arbeitsplätze und gesellschaftliche Entwicklung investiert wird. Allerdings konzentriert sich das Engagement – nationales wie internationales – überwiegend auf die Folgen der Katastrophe, die von Menschen gemacht war und kein nicht zu erwartendes Naturereignis darstellte. Eine Debatte über die Ursachen findet nahezu nicht statt.

Foto: ojcos

Zum Autor

David Müller ist bei der ojcos-stiftung als politischer Fürsprecher zuständig für Religionsfreiheit im Irak. Er besucht regelmäßig das Land und berät politische Entscheider in Deutschland.

Nicht so existenzielle Probleme wie etwa die Situation der religiösen Minderheiten – unter anderem Christen und Jesiden – stehen nur sehr selten auf der To-do-Liste der irakischen Regierung. Viele Verlautbarungen klingen auf dem Papier schön und stellen einen lobenswerten wie guten Anfang eines (wohl längeren) Prozesses dar, bleiben aber fade, wenn es nicht gelingt, sie mit Leben zu füllen.

Die Corona-Pandemie kam zu einer Zeit, in der sich der irakische Staat mit mannigfaltigen ungelösten Problemen konfrontiert sah. Denn es galt nicht nur, die Folgen der IS-Herrschaft zu beseitigen, sondern es betrifft auch ganz existenzielle Fragen wie jene der Sicherheit, der Daseinsvorsorge und der Stabilität des Landes. 1990 verhängte der Westen als Reaktion auf Saddam Husseins Überfall auf Kuwait ein Embargo, das die staatliche Infrastruktur so weit geschwächt hat, dass sie schließlich 2003 endgültig zusammenbrach – und seither nicht mehr aufgebaut werden konnte.

Das staatliche Versagen und die schiere Nichtexistenz wesentlicher staatlicher Infrastruktur wird nun auf erschreckende Weise transparent. Hinzu kommen die mangelnde Sorge um das Leben der Menschen und die allgemeine Schwäche des Gesundheitssystems. Das führte zwar zu einer Zunahme des öffentlichen Drucks auf die Regierung, bislang konnte die Lage aber nicht wesentlich verbessert werden. Im Gegenteil: Corona hat das Land fest im Griff. Ohne internationale Unterstützung werden sich die Pandemie und ihre schrecklichen Folgen nicht eindämmen lassen. 

Die Pandemie offenbarte zwar das mangelnde Bewusstsein der Öffentlichkeit für Gesundheit – die Schutzmaßnahmen werden in weiten Teilen nicht befolgt –, gleichzeitig aber entdecken immer mehr Menschen die Wichtigkeit von Solidarität. Das ethnische und geografische Grenzen ignorierende Virus macht den Menschen bewusst, dass die Krise nur gemeinsam bewältigt werden kann. 

Wie geht es den Christen?

Der IS und Corona haben auch das Leben der Christen nachhaltig beeinflusst und verändert. Die tragischen Auswirkungen sind hinreichend bekannt. Neben all den erlebten Gräueln gibt es aber auch positive Entwicklungen innerhalb der irakischen Kirchen.

Die Kirchen im Irak, dem Kernland des früheren Mesopotamien, gibt es seit 2000 Jahren. Sie sind mit die ältesten Kirchen überhaupt. In solch einer langen Zeit besteht die Gefahr, dass gute Traditionen zum Selbstzweck werden und Leitungsstrukturen sich verselbständigen. Durch die mutwillige Zerstörung von Kirchen und Andachtsgegenständen durch den IS sind die Gläubigen nun gezwungen, sich intensiver mit den Grundlagen ihres Glaubens und einem an der Bibel orientierten Lebensstil zu beschäftigen.

Corona bewirkte zudem einen interessanten Paradigmenwechsel. Bisher waren die meisten irakischen Christen der festen Überzeugung, man könne nur dann ein guter Christ sein, wenn man sich gemeinsam in einem Gebäude trifft – man ging „in die Kirche“. Die Pandemie hat dies meist unmöglich gemacht oder bestenfalls massiv erschwert. Neue und kreative Lösungen wurden nötig. Heute spielt sich kirchliches Leben vermehrt im Privaten ab. Gläubige treffen sich in kleinen Gruppen in Wohnungen, beten, empfangen die Sakramente und leben Gemeinschaft. 

So alt das Land und seine Kirchen auch sind, so divers war schon immer die kirchliche Landschaft. Es treffen nicht nur unterschiedliche Ethnien, sondern auch unterschiedlichen Traditionen aufeinander. Dies war in der Vergangenheit oft ein Grund für Spannungen unter Christen. Heute jedoch können chaldäische, orthodoxe, assyrische und evangelikale Christen sowie Christen mit muslimischem Hintergrund in einem Raum beim gemeinsamen Gebet beobachtet werden. Ein ermutigendes Zeichen der versöhnten Vielfalt.

Die irakische Kirche – der Singular sei hier bewusst gesetzt – ist heute eine Mischung aus traditionellen Kirchen, Evangelikalen und Konvertiten muslimischen Hintergrunds. Letztere sind in den vergangenen Jahren zahlenmäßig so stark gewachsen, dass Viele davon sprechen, sie wären zwischenzeitlich der größere Teil der Gläubigen mit aktiven christlichem Lebensstil. Es bleibt spannend zu beobachten, wie diese Entwicklung weitergeht. In jedem Fall braucht sie aber unsere Unterstützung und unser Gebet.

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