Unsere gefallenen Helden

Fünf Tage liegen laut Bibel zwischen „Hosianna“ und „Kreuzigt ihn“. So schnell fallen unsere Helden. Auch heute noch.
Von Anna Lutz

Als Jesus am Sonntag in Jerusalem einzieht, legen die Menschen Palmzweige auf seinen Weg. Sie schreien: „Der Gesandte des Herrn kommt! Hosianna!“ Viele von ihnen haben gehört, dass dieser Mann, der da so unscheinbar auf einem Esel angeritten kommt, in Judäa und Galiläa unglaubliche Wunder getan hat. Sie kennen ihren Tanach, in dem von einem Retter die Rede ist. Einem, der das Volk befreien wird. Jesus macht ihnen Hoffnung – zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie glauben an eine Revolution. An neue, gute Zeiten, die vor ihnen liegen.

Fünf Tage später stehen sie vor Pontius Pilatus und brüllen: „Kreuzigt ihn!“ Damit meinen sie denselben, den sie nicht einmal eine Woche zuvor gelobt und gepriesen hatten. Jesus soll sterben. Ihren mutmaßlichen Retter sehen sie gefesselt vor sich. Ihre ganze Hoffnung steht dort. Geschlagen. Schweigend. Ein Gefangener. Ihren Frust schreit das Volk heraus. Er bündelt sich in diesen zwei Worten, die Geschichte machen werden: „Kreuzigt ihn!“.

Fünf Tage liegen zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt. 120 Stunden zwischen Rettungsfreude und Enttäuschung. 7.200 Minuten zwischen übersprudelndem Leben und nahendem Märtyrertod.

Wie viel Zeit lassen wir Politikern, Kirchenleuten oder Medienmachern, bevor wir uns enttäuscht abwenden oder gar ihre Absetzung fordern? Wie viele Chancen räumen wir ihnen ein?

Die Stimme des Volkes war nicht der einzige Faktor, der zu Jesu Kreuzigung führte, aber er war ein entscheidender. Das darf uns heute, in dieser Karwoche, zwischen Palmsonntag und Ostern, Mahnung sein. Jesus Christus, der Sohn Gottes, ist einzigartig in der Geschichte der Welt. Aber wir dürfen uns auch heute noch im Umgang mit anderen Menschen fragen: Wie schnell lassen wir unsere Helden eigentlich fallen? Wie viel Zeit lassen wir Politikern, Kirchenleuten oder Medienmachern, bevor wir uns enttäuscht abwenden oder gar ihre Absetzung fordern? Wie viele Chancen räumen wir ihnen ein?

Erinnern Sie sich noch an Martin Schulz? Kanzlerkandidat 2017, bei und nach Bekanntgabe seiner Kandidatur gefeiert wie kein SPD-Kanzleranwärter zuvor. Ein Typ von nebenan, aus Würselen, wer kennt eigentlich Würselen? Einer aus dem Volk, ohne Politikersprech, ohne Allüren, das war die Erzählung. 100 Prozent wählten ihn zum Parteivorsitzenden, das beste Ergebnis der Nachkriegsgeschichte in der SPD. Mehr als 10.000 Menschen traten den Sozialdemokraten bei, der Schulz-Zug dampfte, hupte und fuhr unaufhaltsam. Nur nicht lange. Schon die ersten Landtagswahlen zeigten: Die Erzählung Schulz war wenig nachhaltig. Der Mann fiel so schnell und unaufhaltsam, wie er aufgestiegen war, am Ende fuhr er das schlechteste SPD-Ergebnis bei einer Bundestagswahl ein, 2021 schied er freiwillig aus dem Bundestag aus.

Margot Käßmann, Juli Zeh, Xavier Naidoo, Armin Laschet

Es ist eine urmenschliche Neigung, Retter zu suchen. Offenbar ebenfalls, sie fallen zu lassen wie heiße Kartoffeln, sobald sie die in sie projizierten Hoffnungen nicht mehr zu erfüllen scheinen. Die Liste der gefallenen Helden ist lang. Allein ein Blick in die deutsche Öffentlichkeit fördert Dutzende zutage: Margot Käßmann war vielen die lange gesuchte EKD-Ratsvorsitzende, schlau, aber nicht intellektuell hochtrabend. Eine Frau mit vier Kindern und erbrachter Lebensleistung. Eine, die sich gern einmischt und ihre Haltung auch noch zu artikulieren weiß. Ihren Pazifismus belächelten manche von jeher. Seit Ausbruch des Ukrainekrieges jedoch mehrt sich die Empörung. Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer, Margot Käßmann – das ist der Topf, in dem sie nun köchelt.

Die Schriftstellerin Juli Zeh wurde einst schon als Kandidatin für das Bundespräsidentinnenamt gehandelt. Dann machte sie mit fragwürdigen politischen Aussagen zum Ukrainekrieg von sich reden und seitdem ist man versucht, ihren Namen auf dem Buchcover verschämt zu verdecken, so man sie denn überhaupt noch öffentlich liest.

Robert Habeck galt eins als Wunschkanzler vieler Deutschen, heute ist er der, der die Heizungen verbieten will. Armin Laschet wurde vom Volk bei einem Lacher am Rande der Ahrtalflut erwischt. Die Kanzlerschaft war gelaufen. Sänger Xavier Naidoo, einst der Deutschen größter Popstar, verstrickte sich in seltsame politische Theorien, kroch schließlich zu Kreuze – und ist am Ende von den Bühnen des Landes verschwunden. Vermutlich nicht, weil er kein Interesse mehr an ihnen hätte.

Die Liste könnte fortgeschrieben werden, bis der Ostermorgen graut. Über jede einzelne der genannten Persönlichkeiten ist zu diskutieren, jede von ihnen hat Stärken und Schwächen wie jeder von uns. Gemein ist ihnen aber auch, dass sie die hohen Erwartungen, die an sie herangetragen wurden, nicht erfüllt haben. So wie niemand – außer Gott selbst – sie erfüllen könnte, wie wir es an Ostern feiern: Kein Mensch ist Retter. Kein Star ist Heiliger. Kein Politiker führt uns ins Gelobte Land.

Wie lange dauert es, bis wir alle in den Chor der „Hosianna“- und „Kreuzigt sie“-Rufe einstimmen? Das dürfen wir Medienschaffende, wir Bürger, wir Social Media-Nutzer uns fragen. Palmsonntag ist vergangen, Karfreitag steht vor der Tür. Nicht nur in dieser Woche.

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