Sexueller Missbrauch – nicht nur ein katholisches Problem

Bei sexuellem – und anderem – Missbrauch in der Kirche braucht niemand mit dem Finger auf Priester und Kardinäle zu zeigen. Jede Gemeinde muss vor der eigenen Tür kehren – und jeder Christ vor der seines Herzens. Eine Kolumne von Jürgen Mette
Von PRO
Der Theologe Jürgen Mette leitete viele Jahre die Stiftung Marburger Medien. 2013 veröffentlichte er das Buch „Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson“, das es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte.

Einer meiner Nachbarn berichtete mir kürzlich, er wolle aus der (katholischen) Kirche austreten. Seine Mitgliedschaft bestand ohnehin nur auf dem Papier. So war er erstaunt, dass er sich bei der Stadtbehörde abmelden musste, nicht bei „seinem“ Pfarrer, denn dem wollte er gern persönlich erklären, dass er nicht wegen der Missbrauchsvorfälle an sich austreten wolle, sondern wegen der systematischen Vertuschung und zögerlichen Aufarbeitung der Kirche. Während die Römisch-Katholische Kirche von zu lange verheimlichten Missbrauchsfällen heftig erschüttert wird und die Verantwortlichen mühsam um die Wiederherstellung verlorengegangenen Vertrauens werben müssen, stehen wir Evangelischen nicht besser da. Der Unterschied besteht laut dem EKD-Ratsvorsitzenden in „systemisch bedingten Risikofaktoren“.

Sobald mindestens zwei Menschen miteinander zu tun haben, lauert das Risiko eines Übergriffs, besonders wenn beide in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Risiken entstehen immer, wenn die Intimsphäre Schutzbefohlener nicht sorgfältig respektiert wird. Wir sind alle geschlechtliche Wesen und stehen immer in der Gefahr eines in Gedanken durchgespielten, verbalen oder handfesten Übergriffs.

Bekennen und um Vergebung bitten

Korntal und Ahrensburg, protestantische Tatorte des Missbrauchs, sind nur geographische Marker einer tieferliegenden Not. Kirsten Fehrs, Bischöfin der Nordkirche, sagte: „Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr.“ Dass es sich in der landeskirchlichen Brüdergemeinde Korntal um ein pietistisches Diakoniewerk handelt, ist schon schwer verdaulich. Dass da versteckt, gedeckt und geschwiegen wurde, kam erst ans Licht, als die Opfer den Weg in die Öffentlichkeit wagten. Erst als Details durchsickerten, wurde der Fall an eine unabhängige Gutachter-Instanz übergeben. Die liegt nun vor. Sexueller Missbrauch sei „systematisch möglich“ gewesen.

81 Täter konnten identifiziert werden: Erzieherinnen, Heimleiter, Ärzte, Hausmeister. Auch zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt wurden dokumentiert, die von verbaler Belästigung bis hin zu Vergewaltigungen reichen. Die Erkenntnisse fußen auf Akten und Interviews, die mit insgesamt 105 ehemaligen Heimkindern geführt wurden. Und da geht es um scheinbar ganz normale ehrenwerte Menschen, bekennende Christen, um den selbstlosen Einsatz des diakonischen Personals. Die meisten leben nicht mehr, insofern ist nicht mit strafrechtlicher Aufarbeitung zu rechnen. Der Leiter der Brüdergemeinde Korntal bekennt: „Das Verhalten damals war falsch und entspricht nicht unserem christlichen Verständnis. Wir bitten ehrlich und von Herzen um Entschuldigung.“

Im Licht wandeln

Und wir, die wir uns empört abwenden? Wir kehren verbal vor unserer eigenen Haustür, aber was in der Phantasie und in der Tat hinter der Fassade passiert, das soll nicht ans Licht kommen. Aus Sorge um den Täter, aus Sorge um seine Angehörigen wird zugedeckt, statt aufzudecken. Wir haben in der christlichen Jugendarbeit derart hohe sexualethische Standards errichtet, so viele Vorgaben für das, was uns eigentlich gar nichts angeht, nämlich das Intimleben der uns Anvertrauten, dass uns diese Anfälligkeit zum Missbrauch verunsichert und verstört.

Bei der kritischen Aufarbeitung der NS-Zeit ist in manchen pietistischen Werken auch zu lange höflich geschwiegen worden. Aus Respekt – vor den Tätern, nicht vor den Opfern. Erst als die letzten Täter tot waren, wurde mit der Vergangenheit aufgeräumt und öffentliche Schuldbekenntnisse statuiert.

Die Hebron-Diakonissen in meiner Marburger Nachbarschaft haben vor Jahren ein sehr schönes Beispiel gegeben, indem sie ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zu einer versöhnlichen Begegnung eingeladen haben.

Zurück zu meinem Nachbarn. Er hat innerhalb von zwei Tagen einen verständnisvollen und demütigen Brief des zuständigen Priesters erhalten. Ich durfte ihn lesen. Ein beispielhafter Vorgang jenseits aller Schönschreiberei. „Wandel im Licht“ nennt das der Autor des ersten Johannesbriefes.

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