PRO:Es gibt bereits unzählige Bücher über Dietrich Bonhoeffer. Welchen Ansatz haben Sie gewählt, um sich mit seiner Person zu beschäftigen?
McCabe: Ich habe mich gezielt mit den letzten acht Tagen von Dietrich Bonhoeffer befasst. Der Zeitraum wurde bisher kaum erforscht. Noch dazu kommt, dass die bisherige Quelle hauptsächlich Payne Best war, der als aufgeflogener Spion mit Vorsicht behandelt werden muss.
Warum haben Sie sich für diesen Ansatz entschieden?
Ich war unzufrieden mit dem bisherigen Forschungsstand. Eberhard Bethge hat ein 1.000-seitiges Werk über Bonhoeffer geschrieben, aber nur acht davon beschäftigen sich mit dieser letzten Woche. Dabei hat sich Bethge vorrangig auf eine Quelle gestützt. Ich wollte die Grundlage erweitern, um ein möglichst präzises Bild nachzuzeichnen.
Wie politisch war der Theologe Dietrich Bonhoeffer?
Aus meiner Sicht war er sehr politisch. Für ihn war der christliche Glaube untrennbar mit dem Alltag – damit auch mit politischen Fragen. Deshalb äußerte sich Bonhoeffer bereits ab Anfang der 1930er Jahre zu den Nationalsozialisten. Er nutzte das Bild vom „verrückten Busfahrer“: Wichtiger als die Leute von der Straße zu räumen, sei es, den Fahrer zu stoppen.
Ab wann hat sich die Sichtweise des politischen Menschen bei Bonhoeffer verfestigt?
Ihm wurde es im Laufe der Zeit immer wichtiger, sich zu positionieren. Vielleicht war das nicht von Anfang an sein Zeil. Aber er war sich der Notwendigkeit bewusst, dass er sich äußern sollte. Und das tat er über die Jahre hinweg immer intensiver.
Sie beschreiben in dem Buch auch viele Nazi-Gegner. Welche der Personen hat Sie am meisten beeindruckt?
Das waren die Deutschen Hermann Pünder und Friedrich von Rabenau sowie der Brite Hugh Mallory Falconer. Sie waren extrem treu und mutig. Falconer war britischer Geheimagent und einer der 13 Personen, die gemeinsam mit Bonhoeffers kurz vor dessen Tod Gottesdienst feierten. Keiner in der Gruppe kannte seine Rolle. So war es auch bei Bonhoeffer.
Im Kreis der 13 Personen war auch ein ehemaliger Hitler-Getreuer. Wie kam es dazu?
Meine Recherchen haben ergeben, dass SS-Chef Heinrich Himmler die Gruppe in dem Polizeiwagen zusammengepfercht hat. Warum sie so zusammengesetzt war, wissen wir nicht. Eine von ihnen – Heidel Nowakowski – ist in der letzten 70 Jahren in keiner Bonhoeffer-Literatur erwähnt worden. Erst vor etwa zehn Jahren ist ihr Name erwähnt worden und dann 2019 ein Bild von ihr aufgetaucht.
Wusste Bonhoeffer um die aktuelle politische Entwicklung und ein mögliches Kriegsende?
Nein. Er hatte keinen Zugang zu aktuellen Informationen mehr. Der Kontakt zu Familie und Freunden war abgeschnitten. Von seiner Wache bekam er kleinere Hinweise. Erst ganz am Ende der letzten Woche sickerte bei den Gefangenen durch, wie nah die heranrückenden amerikanischen Truppen wirklich waren.
Hatte Bonhoeffer noch Hoffnung, oder ahnte er sein Ende?
Ich bin überzeugt, dass er eine zunehmende Ahnung davon hatte, als er Berlin verlassen musste. Er hoffte natürlich, dass dies seine Chancen auf ein Überleben steigerte. Aber er war auch ein Mann der Realität. Als er Anfang Oktober ins Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße überführt wurde, sah es nicht gut für ihn aus. Bonhoeffer war realistisch und auf alles gefasst. Seine tiefe Hoffnung lag darin, dass sein Leben in den Händen Gottes war.
War er auch bereit für ein Martyrium?
Das Paradoxe ist, dass man zwei Dinge annehmen kann. Er schätzte die Lage, wie gesagt, sehr realistisch ein. Er wusste einerseits um die Willkür des Regimes. Andererseits hoffe er auf Gerechtigkeit.

Bonhoeffer hat ein anderes Ende erlebt. Was bleibt von diesem Theologen?
Als Gemeindepfarrer erlebe ich seit 25 Jahren, wie faszinierend seine Theologie bis heute wirkt. Sie hat mein Gottesverständnis vergrößert und eine weite Perspektive in ethische und politische Diskussionen gebracht, aber auch für den Umgang mit jungen Menschen. Das ist ein enorm wertvolles Erbe.
Was kann die Kirche heute noch von Bonhoeffer lernen?
Bonhoeffer hat einmal gesagt: „Jeder Hof braucht einen Clown. Denn oft kann nur ein Clown die Wahrheit sagen.“ Er hat dabei auf das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ verwiesen. Damals wie heute braucht es Menschen, die unbequeme Wahrheiten aussprechen. Bonhoeffers Glaube an die Wahrheit in Christus bleibt hochaktuell.
In den letzten Wochen haben viele deutsche Medien berichtet, wie amerikanische Christen den Theologen Bonhoeffer vereinnahmen. Wie blicken Sie auf diese Debatte?
Darüber bin ich verblüfft und enttäuscht zugleich. Ich würde es besser finden, sich mit den realen Ereignissen zu beschäftigen, um ein genaues Bild von Bonhoeffers Leben zu erhalten. Das schützt davor, sich eine eigene Agenda aufzubauen und zur Grundlage weiterer Gedanken zu machen. Um sich mit den echten Ereignissen zu beschäftigen, wollte ich mit meinem Buch einen kleinen Beitrag leisten.
In ihrem Buch steht der Bonhoeffer-Satz „Er begann lauter zu sprechen als je zuvor, als er starb“. Konnten die Zeitgenossen Bonhoeffers Wirkung richtig einschätzen?
Viele der Zeitgenossen hatten zu seinen Lebzeiten keine Vorstellung von seiner Bedeutung. Als Theologe war er eine Ausnahmeerscheinung. Was er mit seinem Leben bewirkt hat, ist immer noch für ganz viele Menschen auf der Welt lebendig und zeigt Gottes Wirken.
Vielen Dank für das Gespräch.
John McCabe: „Acht Tage im April – Dietrich Bonhoeffers letzter Weg nach Flossenbürg“, Gütersloher Verlagshaus, ISBN 9783579082578, 36 Euro